(Dieser Text ist noch nicht ganz vollständig bzw. die Notate bedürfen noch einer Überarbeitung. Dabei gibt es aber Aussagen oder Geschehnisse, die ich für so bemerkenswert, bzw. so eklatant halte, daß ich nicht umhin komme, sie auch in einer Vorabversion schon online zu stellen: So war die NS-Diktatur gerade überwunden, hatten 1948 die Konservativen - übrigens durchaus im Einklang mit den Sozialdemokraten - gleich wieder beschlossen, sogenannte "Asoziale" in Arbeitslager einzusperren. Mich frappiert eben die Kontinuität, bzw. daß es dagegen praktisch keine Einwände gegeben hatte.)


# "Erinnern um zu lernen"

[Beschreibungstext](betrachtungen-summary.html)

[Weiterführende Essays](betrachtungen-essays.html):

6. Nachdenken über Menschen: Theorie X und Y

7. Konservative und Rechte

7.1 [Einleitung: Jose Ortega y Gasset](#ortega)

7.2 (A): [In Deutschland](#kons-deutsch)

7.2.1 [Die Konservativen bis 1933](#bis-1933)

7.2.2 [Was war der Faschismus? Eine These von Seymour Lipset](#lipset)

7.2.3 Verhalten im NS

7.2.4 [Einschub: Der "Einmarsch nach Polen"](#einmarsch-nach-polen)

7.2.5 Konservatives Denken nach 1945: "Ursachenbehauptung" vs. "Weltbild"

7.2.6 [Konservatives Denken nach 1945: Die "Arbeitslager"-Debatte](#kons-arbeitslager)

7.2.7 [Konservatives Denken nach 1945 II](#historikerstreit)

7.3 (B): International

7.3.1 Italien

7.3.2 Spanien

7.3.3 Österreich in der Zweiten Republik

7.3.4 [Frankreich 1983,2002,2024](#frankreich)

7.3.5 [Großbritannien im und nach dem "Brexit"](#brexit)

7.3.6 Dänemark, Niederlande, Italien, Finnland, Schweden, ...



[label-name="ortega"]
## Einleitung: Jose Ortega y Gasset 


__"... Mensch, Technik, Wohlbefinden sind letztlich synonym." [^Ortega-1951] ...Gespräche 1951...,

[^Ortega-1951]: zitiert nach: NN, "Mensch und Raum_ Das Darmstädter Gespräch 1951 mit den wegweisenden Vorträgen von Schwarz, Schweizer, Heidegger, Ortega y Gasset", 1951, S.156
[^Thomas]: Willilam Lee Thomas, "The political theories of Jose Ortega y Gasset", 1962
[^Dobson]: Andrew Dobson, "An introduction to the politics and philosophy of Jose Ortega y Gasset", Cambridge, Mass: Cambridge University Press, 1989



Jose Ortega y Gasset (1883-1955) gilt als einer der führenden spanischen Intellektuellen in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Es ist vielleicht nicht ganz falsch, ihn als einen "liberal-konservativen Denker" zu bezeichnen, der auch im Austausch mit konservativen, liberalen als auch mit sozialdemokratischen Kreisen stand. Als der spanische Bürgerkrieg ausbrach, gehörte er zu den prominenten Unterzeichnern eines Manifests, mit dem sich führende Persönlichkeiten für die Republik aussprachen. [^Thomas] [^Dobson]

Eine seiner "Zeitdiagnosen" war, ein typischer Vertreter dieser Zeit sei der "satte junge Herr", eine Jugend, die letztlich von den Leistungen ihrer Vorgänger profitiere, aber nicht bereit sei, selbst etwas für die Gesellschaft zu leisten. [^Ortega-Masse]

[^Ortega-Masse]: Jose Ortega y Gasset, "Der Aufstand der Masse", 1926/...

Andererseits hatte er in gewisser Weise dabei auch ausgeblendet, daß bereits die "jungen Herren" nicht im luftleeren Raum aufgewachsen waren, sondern in einem Umfeld, das von den vorhergehenden Generationen, auch von Vertretern seiner Generation, geschaffen worden war. Insofern hatten seine Zeitgenossen den Nachfolgenden einerseits Vorbilder auch für die Entstehung des Faschismus geliefert, damit andererseits diesen auch als schwere Hypothek hinterlassen, mit der sie sich - je nach dem Land, in dem sie lebten - für die nächsten Jahre oder Jahrzehnte herumschlagen mußten.

### TL;DR

Die Frage ist ja auch, was Faschismus letztlich ist und woraus er seine Ideen zieht. In der geschichtlichen Betrachtung haben Akteure verschiedener Disziplinen häufig den ideologischen Gegner dafür verantwortlich erklärt, während Andere meinten, der Faschismus sei letztlich etwas so "Neuartiges", daß er letztlich mit keiner Entwicklungslinie in Verbindung gebracht werden könne. [^Faschismus-Konzeptionen] Ortega sieht ihn als "Reißbrett-Ideologie", als "Phänomen der Moderne" an. Während aber gleichzeitig die Faschisten selbst die vormodernen Wurzeln ihrer (wirtschaftlichen) Vorstellungen behaupteten. [^Cirillo-Pareto] Schließlich aber waren "vormoderne Herrschaftsformen", wie sie im Sinne einer "Eliten-Herrschaft" gepflegt wurden, eben nicht demokratisch, sondern autoritär geprägte Systeme, die letztlich die Mehrheit der Menschen unterdrückt und ihre Arbeitskraft ausgebeutet haben. Viele Menschen lebten auch damals auf einem niedrigen Lebensstandard - der freilich in der frühindustriellen Gesellschaft noch einmal gesunken war. Letztlich werden also hier Dinge idealisiert, die so idyllisch in Wahrheit gar nicht waren.

[^Faschismus-Konzeptionen]: Richard Saage, "Faschismus - Konzeptionen und historische Kontexte. Eine ...", Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007
[^Cirillo-Pareto]: Renato Cirillo, "Was Vilfredo Pareto really a precursor of fascism?", in N.N., 1993


Es wäre letztlich auch falsch, Ortega als Faschisten zu bezeichnen. Er war letztlich kritisch gegenüber utopistischen Angeboten, die gleichsam "am Reißbrett" eine neue Gesellschaft entwürfen. Andererseits hat die "Eliten-Theorie", die seine Ideen beeinflußt hat, letztlich auch antidemokratische Wurzeln. [^Nye] In gewisser Weise war seine Vorstellung ein Rückgriff auf "traditionelle Zeiten", andererseits entwarf aber bereits Ideen eines demokratischen "vereinten Europas". Er betrachtete autoritäre Bewegungen wie Kommunismus, Faschismus und letztlich auch einen konfliktären Nationalismus, der Völker gegeneinander hetzt, als letztlich zum Scheitern verurteilt. (Er formulierte allerdings auch Bedingungen, die erfüllt sein mußten, damit eine liberale Gesellschaftsordnung funktionieren könne: So müsse die Gesellschaft auch den Mitgliedern die Ressourcen an die Hand geben, damit sie an der Gesellschaft teilhaben könnten.) [^NN-Voraussetzungen]

[^NN-Voraussetzungen]: NN
[^Nye]: Robert Nye, "The Anti-Democratic Sources of Elite Theory - Pareto, Mosca, Michels", New York: MacMillan Publishers Ltd., 1971


Allerdings fand beispielsweise Jose Antonio Primo de Rivera, einer der Urheber des spanischen Faschismus, immer noch genug Ansatzpunkte, um sich letztlich auf ihn zu berufen und ihn als positive Inspirationsquelle für seine Vorstellungen einer Gesellschaftsordnung darzustellen: Faschismus ist natürlich als solches bereits eine eklektische Konstruktion, es werden ja durchaus z.B. auch "syndikalistische" Konzeptionen von Gesellschaft propagiert. [^Syndikalismus] Andererseits waren sicherlich die Vertreter verschiedener Diktaturen - er lebte schließllch in der Folge teilweise in Portugal und nach 1945 zeitweise wieder in Spanien - ihm auch nicht "spinnefeind".

[^Syndikalismus]: Die Gesellschaft sollte dabei nach "Berufsgruppen" organisiert werden, bei der letztlich Arbeit"geber" und Arbeit"nehmer" ihre Interessen ausgleichen und dadurch Konflikte reduzieren sollten. Die "Anarchosyndikalisten" waren eigentlich eine "linke" Bewegung. Andererseits war aber auch der Entwickler der ersten erfolgreichen "faschistischen Machtübnernahem", Benito Mussolini, zunächst Sozialist gewesen. Jose Primo de Rivera, einer der Urheber des Faschismus in Spanien, sah diese syndikalistischen Vorstellungen andererseits explizit als Versuch an, die Klassengegensätze und -kämpfe zu beenden, die aus seiner Sicht von den Kommunisten geschürt worden seien, die die unterschiedlichen Klassen gegeneinandergesetzt hätten.

So enthalten seine Schriften teilweise Gedanken, daß es letztlich eine "überparteiliche Bewegung" geben sollte, die Parteien transzendiere und ausschließlich "im nationalen Interesse" handle.

Ortega war andererseits ein Vertreter eines Eliten-Diskurses, vertrat also letztlich die Theorie, daß es in einer Gesellschaft "ausgewiesene Personen" gebe, die über Fähigkeiten verfügten, die sie letztlich zum Führen prädestinieren - während die Aufgabe der Masse es letztlich sei, "geführt" zu werden. Diese Theorie war interessanterweise in jenen Ländern unter Intellektuellen am beliebtesten, in denen eine "autoritäre Tradition" bestand, also etwa Deutschland und Italien (als ein weiterer Vertreter wird beispielsweise der Italiener Vilfredo Pareto genannt). Für diese Führungsrolle prädestiniert sahen viele Vertreter dieser Theorie denn auch den Adel, wobei das aus Sicht von Ortega allerdings auch nicht zwingend war: In jeder Gesellschaftsschicht und -gruppe fänden sich Individuen, die mit Intelligenz, Vision und Charisma ausgestattet und in der Lage seien, eine Führungsrolle zu übernehmen. Den Faschismus kritisierte er als "Massenbewegung": "Der Mensch der Masse" wolle Macht übernehmen, allerdings ohne die Fähigkeit dazu zu haben - er wolle letztlich Dinge durchsetzen, sogar ohne Rücksicht darauf, ob sein Handeln "richtig" sei. [^RLey-Zeitzeugenbericht]

[^RLey-Zeitzeugenbericht]: Dazu ein Zitat eines prominenten Nazi-Funktionärs, nach dem Bericht eines Zeitzeugen: "Nationalsozialismus ist der Wille des Führers. Punkt."

Die "Vermassungsthese" zu den Ursprüngen des Faschismus ist letztlich insofern eindimensional, weil der Faschismus natürlich auch eine "Elitentheorie" ist: Die Faschisten sahen im allgemeinen ihr "Volk" als gegenüber anderen Völkern überlegen und von einer Art von "Vorsehung" ausersehen, also gewissermaßen als Angehörige einer "Elite der Völker". Andererseits sahen sie die Gesellschaft als hierarchisch durchstrukturiert an - vom "Führer" aus abwärts und mit ausgewiesenen Gruppen, die sich als "Elite" verstanden.




[label-name="kons-deutsch"]
## Konservative und Diktatur (A): In Deutschland


_"Die Grünen sind der Brandbeschleuniger für die AFD."_ [^Dobrindt-Gruen]

[^Dobrindt-Gruen]: Interview der Woche: Alexander Dobrindt, DLF, 19.01.2025


_"Und da halte ich es nun mal für plausibel, dass die Medien und Parteien, die ständig sinngemäß sagen: "Ja, die AfD hat wirklich recht, Deutschland ist ein ganz unsicheres Land, und daran ist Migration schuld" (obwohl beides einfach gelogen ist), stärker für den Rechtsruck verantwortlich sind als diejenigen, die das nicht tun."_ [^FGH-Diagnosen]

[^FGH-Diagnosen]: https://freigeisterhaus.de/viewtopic.php?p=2309720#2309720 , abgerufen am 09.03.2025


(TODO: hatte neulich diese iwo-Studie dazu, am 19.02. evtl.: Die Milieus seien halt diametral entgegengesetzt und dennoch beide von ihrer Rechtleitung der Weltdeutung überzeugt.?!)


...Dobrindt sieht also nicht als Problen an, daß die CDU/CSU (neben anderen Parteien in der BRD) auf den rechtspopulistischen Pfad gegangen sind, und sieht die AFD auch nicht als "ideologischen Hauptfeind" des Konservatismus. Sondern er betrachtet alles, was irgendwie als "linksgrün" bezeichnet werden kann, als diesen, und geißelt die Grünen dafür, daß sie in der Situation noch nur einen verhältnismäßig moderaten Kurs gefahren haben.

Jeder Politiker wird natürlich bestrebt sein, seine Handlungsweise zu rechtfertigen. Oder auch, eigene Verantwortlichkeiten für Entwicklungen der Zeit abzuschieben. Die geschichtliche Erfahrung zeigt, daß nicht zuletzt ein Eingehen der Anderen auf die Inhalte der Rechten diese gestärkt hat. Durch die "Normalisierungsstrategie", welche andere, insbesondere konservative und teilweise auch liberale Parteien gefahren haben, sind die Inhalte der Rechten für breite Teile der Bevölkerung akzeptabel geworden. Eine alternative Strategie wäre gewesen, einen "breiten Schulterschluß" der demokratischen Parteien zu vereinbaren, nicht auf diese Avancen einzugehen und danach zu streben, politische Lösungen "in der Mitte der Gesellschaft" zu suchen, anstelle sich Mehrheiten nach rechts hin zu suchen.





[label-name="bis-1933"]
## Die Konservativen bis 1933

[^Wolkenstein]: Fabio Wolkenstein, "Die dunkle Seite der Christdemokratie - Geschichte einer autoritären Versuchung", München, C.H.Beck, 2022
[^Breuer]: Stefan Breuer, "Die Völkischen in Deutschland - Kaiserreich und Weimarer Republik", Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2.Auflage 2010


Viele Gruppen in der Zeit vor 1900 wie auch bis 1933 zeigten ja verschiedene Spielarten von Liberalismus, monarchistischem oder anderweitig autoritärem Denken, Nationalismus, Rassismus, "völkischer" Ideologie (nicht unbedingt deckungsgleich, vgl. [^Breuer], S.10 ), und Vorstellungen konnten "traditionell" (etwa in religiösen Vorstellungen), in einem "Nationsgedanken" aus der literarischen Epoche der Romantik bzw. der Zeit von Revolution und Befreiungskriegen [^Puschner] und/oder aus einem "anti-modernen" Denken, das erst in der Ablehnung der modernen Welt entstand, und/oder in einem "wissenschaftlichen Rassimus" des späteren 19.Jahrhunderts begründet sein. Wolkenstein bezeichnet die Wurzeln der Christdemokratie als "anti-modern", auch sie bewegte sich in ihrer Geschichte (und auch in neuerer Zeit) zwischen liberalem und autoritärem respektive anti-demokratischem Denken. Auch das Christentum kann ganz verschieden verstanden werden, als Identität, als "Kampfbegriff zur Abgrenzung" oder als "breiteres normatives Wertefundament". (vgl. [^Wolkenstein] S.25) 

Es gibt natürlich auch Autoren, die "direkte" Verbindungslinien zwischen Vorstellungen aus der Epoche der Romantik bis in die NS-Zeit oder den "Antisemitismus als Baugerüst der deutschen Nation". [^Puschner-4]

[^Puschner]: Marco Puschner, "Antisemitismus im Kontext der Politischen Romantik - Konstruktionen des 'Deutschen' und des 'Jüdischen' bei Arnim, Brentano und Saul Ascher", Conditio Judaica 72: Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2008

[^Puschner-4]: _"Freilich gibt es durchaus vereinzelte Beiträge, die die Konstruktion der Nation gegen die Juden (Peter Alter, Claus-Ekkehard Bärsch und Peter Berghoff) oder den Antisemitismus als Baugerüst der deutschen Nation (Lutz Hoffmann) thematisieren; ... Michael Ley dagegen vermutet in seiner 'Kleinen Geschichte des Antisemitismus' durchaus einen Zusammenhang zwischen dem neuen und wirkungsmächtigen »ästhetischen Design«, das die Schriftsteller der romantischen Generation der konstruierten »deutschen Nation« verliehen haben, und der »in hohem Maße judenfeindlich[en]« Haltung dieser Autoren; zudem insistiert er auf der Wirkungsmächtigkeit der romantischen Ideen. In Autoren wie Joseph Görres oder Friedrich Wilhelm Schelling sieht Ley die »wahnwitzigen Vorreiter einer Resakralisierung von Politik und Gesellschaft«: »Ihr Projekt der ›Romantisierung der Gesellschaft‹ ist der gigantische Versuch, eine Gesellschaft in ein Gesamtkunstwerk zu transformieren, das letztlich in Auschwitz endete.«"_ (Puschner, a.a.O., S.4-7)

Das ist in der propagierten Zwangsläufigkeit so sicherlich verkürzend. Andererseits wäre es auch falsch, alle Liberalen und Konservativen ihrer Zeit pauschal als antidemokratisch oder faschistisch gesinnt einzustufen: Dennoch sind viele Beurteilungen eher als "Schnappschüsse" zu betrachten denn als Aussage, die eine Gruppierung oder Person für ale Zeiten charakterisierte. Thomas Mann, ursprünglich monarchistisch gesinnt, wurde ja letztlich zu einem wichtigen Fürsprecher der Demokratie in Deutschland, auch Politiker wie Carl Goerdeler gingen letztlich zur Opposition gegen Hitler über.

Für die Betrachtung habe ich hier verschiedene Untersuchungen herbeigezogen: Wolkenstein [^Wolkenstein] betrachtet dabei eher die sog. Christdemokraten, während Breuer [^Breuer] sich vor allem auf die "völkischen" Gruppen und Parteien konzentriert. 

* "Völkische" Gruppen kann man indessen nicht als ein vom "liberal-konservativen Milieu" "getrenntes Milieu" bezeichnen, weil sie letztlich geistesgeschichtliche Verbindungslinien haben, die teilweise auch bis in die Zeit um 1800 zurückreichen, und auch die Menschen scheinen nicht unbedingt so große Unterschiede zwischen den Gruppen gesehen zu haben, als daß man nicht Gruppe XY als das "kleinere Übel" gegenüber z.B. den "bösen Sozialdemokraten" gesehen hätte. Der "typische" "liberal-konservative Wähler" der Zeit hat völkisch-nationalistische Positionen nicht "per se" als "fremd", sondern viel eher als Teil eines "Lagers" empfunden. Dies läßt sich sowohl während des Kaiserreiches als auch während der Weimarer Republik beobachten:

"So fest und unverrückbar die einschlägige Deutungskulturseit den 80er Jahren sein mag, sie steht keineswegs für ein völlig eigenes Wert- und Normensystem, das durch einen Hiatus von anderen Wert- und Normensystemen getrennt wäre. Mit den Konservativen verbindet die Völkischen die Präferenz für Ungleichheit, mit den (Alt-)Liberalen die Fixierung auf die harmonisch-synthetische Denkfigur der ersten Moderne; auch die Hochschätzung der (ethnisch gedeuteten) Nation oder des Leistungsprinzips sind alles andere als ein Sonderbesitz der Völkischen. Wie leicht die gern demonstrativ zur Schau getragene Distanz zum 'plebejischen Radikalismus' eingezogen werden kann, zeigt nicht nur der Tivoli-Parteitag der Konservativen, sondern jede Reichstagswahl: zumal in den Stichwahlentscheidungen verhelfen die Völkischen liberalen oder konservativen Kandidaten zum Sieg gegen Sozialisten, wie auch umgekehrt die Klientel der Liberalen und der Konservativen im Konfliktfall eher für völkisch-antisemitische Kandidaten votiert als für Sozialisten." (vgl. [^Breuer] S.140-147)



[label-name="lipset"]
### Was war der Faschismus? Eine These von Seymour Lipset: Der Faschismus als "Extremismus der Mitte"

Seymour Lipset bezeichnete so bald nach dem 2.Weltkrieg den Nationalsozialismus "wie die klassischen faschistischen Bewegungen überhaupt" als einen "Extremismus der Mitte", indem sich die Sympathisanten und letztlichen Wähler aus der "Mitte der Gesellschaft" rekrutierten: Das läßt sich auf verschiedenen Ebenen nachvollziehen, hier anhand einerseits der Entwicklung des faschistischen Denkens aus der liberalen Ideologie und anhand der .


#### TODO: Reinhard Kühnl, 'Formen bürgerlicher Herrschaft: Liberalismus - Faschismus'

... Reinhard Kühnl zeigt dies einerseits vom Denken der sog. "Nationalliberalen" her, die sich in der Bismarck-Zeit dem autoritären Denken hingegeben haben, andererseits sieht er aber bereits im Denken der "klassischen" Liberalen seit der Zeit der französischen Revolution den Beginn von Entwicklungslinien, die im Faschismus mündeten. [^Kuehnl]

[^Kuehnl]: Reinhard Kuehnl, "Formen bürgerlicher Herrschaft: Liberalismus und Faschismus", Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1971





#### Das Verhalten der Wähler

In der soziologischen Forschung relativ verbreitet ist beipsielsweise die These der "Modernisierungsverlierer": ... .

Die Zustimmung des Wählers aus dem "liberal-konservativ-völkischen Milieu" zur Demokratie respektive zu radikalen Positionen sei letztlich von der (empfundenen) Situation seines Geldbeutels abhängig gewesen: Charakteristisch für diese Wähler sei es gewesen, bei der ersten Wahl in der Weimarer Zeit im Jahr 1919 zunächst die linksliberale DDP zu unterstützen, die vielen Menschen in der Zeit von 1919, als die Gefahr einer kommunistischen Machtübernahme als groß und bedrohlich wahrgenommen wurde, als "Lebensversicherungspolice bei der befürchteten Bartholomäusnacht" angesehen worden sei. Schon bei der nächsten Wahl im Jahr 1920 haben diese mehr als die Hälfte ihrer Wähler verloren, die Verluste seien fast gleich groß wie die Gewinne der rechtsliberalen DVP gewesen, die man als "Versicherungsschein gegen Aufteilung des Vermögens" gesehen habe. 1924 seien große Teile dieser Wähler schließlich bei der (rechts-)konservativen DNVP gewesen, zwischenzeitlich ggf. auch bei rechtskonservativen Interessenpartei wie der Wirtschaftspartei/"Partei des deutschen Mittelstandes". Schließlich seien viele dieser Wähler bei der NSDAP gelandet [^Extre-Mitte] Gleichzeitig läßt sich eine "Radikalisierung" von Positionen feststellen, politische Positionen von Parteien haben sich ihrerseits nach rechts verschoben.

[^Extre-Mitte]: vgl. Heinrich August Winkler, "Extremismus der Mitte? Sozialgeschichtliche Aspekte der nationalsozialistischen Machtergreifung", Vierteljahreshefte für Zeitgeschcihte 1972, Heft 2, S.176f. bzw. S.179).. (Q?) 

* Wolkenstein versuchte, insbesondere die sich als "christdemokratisch" bezeichnenden Parteien hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Demokratie einzuordnen. Letztlich bleibt aber auch die Konklusion, daß natürlich die Parteien sich ideologisch respektive von der Zusammensetzung her verändert haben, so daß die Frage, wie eine Gruppe oder Person sich verortete, oft auch zeitbezogen ist. Beispielsweise ordnet er die Zentrumspartei einem "demokratischen Zentrismus" zu, muß das allerdings selbst qualifizieren. Einerseits habe es nur relativ wenige "überzeugte Demokraten" gegeben, während viele Politiker ein eher "pragmatisches Verhältnis zur Demokratie" gehabt hätten, etwa die Rückkehr zur Monarchie oder einen autoritären Staat favorisiert hätten.



- ...DNVP

Die von 1918 bis 1933 existierende Deutschnationale Volkspartei (DNVP) wird als "nationalkonservative" Partei bezeichnet. Sich selbst als "Sammelbecken" solcher Gruppierungen verstehend, vertrat sie während ihrer Geschichte in wechselnden Gewichtungen "völkisch"-nationalistische, "klassisch" restaurativ-monarchistische, antisemitische als auch in gewisser Weise "pragmatische" Positionen in Bezug auf die Demokratie. Nachdem zunächst relativ schnell republik-feindliche Kräfte die Kontrolle über das Verhalten der Partei gewonnen hatten, nahm unter einer neuen Parteiführung nach Mitte der 1920er Jahre die DNVP eine etwas konziliantere Haltung gegenüber der Republik ein und beteiligte sich auch an einigen Regierungen. 1930 erlangten allerdings wieder rechtsautoritär-völkische Elementen die Oberhand in der Partei und führten diese letztlich bis hin zur Unterstützung der NSDAP. [^DNVP]

[^DNVP]: https://de.wikipedia.org/wiki/Deutschnationale_Volkspartei , abgerufen am 18.02.2025

Ein Ereignis, das gewissermaßen die Zerschlagung der Demokratie vorwegnahm, war etwa der sogenannte "Preußenschlag": Im Großen und Ganzen war der größte Teilstaat Preußen von einer Koalition  aus SPD, Zentrumspartei und der liberalen DDP regiert worden. Die Landtagswahl von 1932 brachte auch dort eine erhebliche Stärkung der NSDAP mit sich, gegen die Demokratie gerichtete Kräfte erlangten letztlich die Mehrheit, so daß die bisherige Regierung nur mehr "auf Abruf" im Amt war. Von Papen favorisierte die Bildung einer Regierung, die aus NSDAP, DNVP und Zentrumspartei gebildet werden sollte. Kern dieser Idee war natürlich, in Deutschland letztlich Verbündete für die Schaffung eines "Neuen Staates" zu finden, worunter von Papen ein autoritäres Präsidialregime verstand, wobei langfristig das Ziel der Wiederherstellung der Monarchie stehen sollte. Zu dem Zwecke mußten Widerstände beseitigt werden, wozu sicherlich starke demokratische Regierungen als auch Staatsorgane zählten, die unter deren Kontrolle standen. Diese gewünschte Regierung kam indessen nicht zustande, weil die NSDAP die ganze Macht für sich beanspruchte. Als Alternative hierzu konnte von Papen dennoch auf den Reichspräsidenten Hindenburg als Verbündeten zurückgreifen, der mit den richtigen Argumenten - 'die öffentliche Sicherheit und Ordnung sei nicht mehr gewährleistet' - überzeugt werden konnte, letztlich die Absetzunng der preußischen Regierung zu verkünden. Diese Schwächung der demokratischen Institutionen war letztlich ein wichtiger Schritt auf dem Weg hin zum Zerfall der demokratischen Ordnung in Deutschland. [^Preussenschlag]

[^Preussenschlag]: https://de.wikipedia.org/wiki/Preu%C3%9Fenschlag




[label-name="kons-im-ns"]
## Verhalten im NS

Auch Konservative haben indessen verschiedene Strategien gewählt, sich zu den Nationalsozialisten irgendwie "zu verhalten".


Nachdem die Konservativen ja im Vorfeld der Faschismen des 20.Jahrhunderts so viel dafür getan hatten, diesen Gruppierungen den Weg zu bereiten oder sie zu "ermöglichen", wäre nun auch zu fragen, welche Ursachen denn die Konservativen selbst suchten. Zusammenfassend läßt sich wohl sagen, sie suchten bei sich selbst die Verantwortlichkeit am wenigsten.

Im folgenden sei kurz auf eine Betrachtung von Jean Solchany ("Vom Antimodernismus zum Antitotalitarismus. Konservative Interpretationen des Nationalsozialismus in Deutschland 1945-1949", in "Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte", 3/1996, S.373-394) Bezug genommen. [^Solchany]

[^Solchany]: Jean Solchany, "Vom Antimodernismus zum Antitotalitarismus. Konservative Interpretationen des Nationalsozialismus in Deutschland 1945-1949", in "Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte", 3/1996, S.373-394

Natürlich waren auch damals die Auffassungen zum NS unter den Konservativen breit gestreut - Einige hatten sich den NS angedient, Andere sich von Anfang an oder im Laufe der Zeit gegen diese gestellt. Es mag auch sein, daß argumentiert wird, auch nach 1949 hätten sich auch die Konservativen mit der NS-Zeit auseinandergesetzt und auch eigene Schuld und eigene Verantwortung aufgearbeitet. Andererseits haben sich ja CDU-Mitglieder auch in identitären Kreisen als auch bei der sogenannten "Werte-Union" umgetan, die ja auch wieder eine andere Position, möglicherweise auch eine andere Bewertung zu einigen zeitgeschichtlichen Dingen vertreten. 

Im Konservatismus war bis deutlich nach dem 2.Weltkrieg, am mindestens bis in die betrachtete Zeit ein antidemokratisch und traditionalistisch und antimodern ausgerichteter Nationalismus prägend, der dann auch nach 1945 zunächst eine Grundlage für die "Ursachenforschung" bildete. Gleichwohl wie der NS ein Geschichtsbild zu formulieren versuchte, das eine Vergangenheit konstruierte, wie sie wohl in Wirklichkeit nie war, um vermeintlich an die "konservative Sehnsucht" anzuknüpfen, den Konservativen die Erfüllung ihrer Phantasien zu suggerieren. .

Als ein Beispiel wird etwa ein konservativer Publizist namens Rudolf Pechel genannt, der "glaubte (...), in der Regierung Hitlers die Verwirklichung seiner eigenen politischen Wunschvorstellungen erfüllt zu sehen: 'Das - im eigentlichen Sinne - konservativ-revolutionäre Prin- zip, das den Führergedanken und die organische Gliederung des Volkes (...) beinhaltet, steht vor dem Siege'." Er habe dann versucht, eine Stellung im NS-Ministerium für Propaganda zu erhalten, "um den Einfluß der linken deutschen Exilzeitschrift 'Die Weltbühne' entgegenzuwirken." Ein Historiker namens Gerhard Ritter lobte die " 'jugendlich-sieghafte Kraft', mit der die revolutionäre Volksbewegung zum Angriff auf die „parlamentarischen Parteien" übergehe".

Insbesondere für das System begeistern konnten viele Konservative die militärischen Siege des Regimes. Diese Haltung war weit verbreitet: "Die Begeisterung Friedrich Meineckes während des Frankreichfeldzuges offenbart die beherrschende Kraft des Nationalismus selbst unter den gemäßigten Konservativen in Deutschland: „Freude, Bewunderung und Stolz auf dieses Heer müssen zunächst auch für mich dominieren. Und Straßburgs Wiedergewinnung! Wie sollte einem da das Herz nicht schlagen!"

Natürlich haben andere Konservative das NS-Regime abgelehnt oder sind im Laufe der Zeit auf Distanz gegangen.

So manches Mal war allerdings die Ablehnung der Nazis nicht so sehr durch unterschiedliche politische Zielsetzungen begründet. Teilweise auch deshalb, weil die Konservativen die Methoden der Nazis nicht gutheißen konnten, sie ihr "Feingefühl" verletzt hätten, oder weil die Betreffenden zum Opfer von internen Machtkämpfen innerhalb des Regimes, der "Bewegung", wurden.

...




## Konservatives Denken nach 1945: "Ursachenbehauptung" vs. "Weltbild"

Natürlich hat man sich auch nach dem Ende des Nazi-Regimes die Frage gestellt, wie die Nazis hätten an die Macht kommen können, wobei die gestellten "Diagnosen" auch immer wieder ein Stückweit zur Selbst"entschuldung" dienten. Seymour Lipset hatte den Nationalsozialismus als einen "Extremismus der Mitte" bezeichnet.

..."Vermassungsthese", siehe auch Ortega. Damit wurden allerdings auch "traditionelle" Herrschaftsverhältnisse: bukolische Lebensweise, bzw. Elite oben, Ohnmächtige unten, gerechtfertigt und romantisiert.

Dabei interessant: Die als "Massen" Gegeißelten haben es immer wieder auch verstanden, sich als "Elite" darzustellen oder selbst zu sehen. Die Mitglieder der Arbeiterbewegung haben sich durchaus als "Vorkämpfer" des Proletariats gesehen, die etwa ein höheres "Klassenbewußtsein" o.ä. hätten als der Rest der Proletarier. [^Proletarier] [^Autoritaer-Sozdem] Bei den "Bolschewiki" wird das bereits durch die Bezeichnung ("Minderheit") deutlich. Auch die faschistischen Regimes erheben einerseits den Anspruch auf einen "Massencharakter", "das Volk" soll "als Ganzes" erschlossen und vereinnahmt werden - andererseits wird ja auch eine "Rassenhierarchie" propagiert, worin sich die eigene "Rasse" als vermeintliche "Herrenrasse", als "Elite der Völker" begreifen soll. Andererseits gibt es in diesen "Massenregimes" auch durchaus relativ große Gruppen, die sich selbst als "Elite" sehen: Die kommunistischen Parteien definierten sich durchaus als "Avantgarde der Arbeiterklasse". Vergleiche auch etwa die SS im Dritten Reich, die "Stasi" in der DDR.

...Konservative haben nach dem 2.Weltkrieg weiterhin die sog. "Vermassungsthese" vertreten: Man selbst sei nicht für die Entstehung der NS-Herrschaft verantwortlich, sondern derjenige, den man sowieso als "ideologischen Feind" schon immer im Auge hatte. So wurde sehr häufig der Faschismus "bloß als Gegenreaktion" (sic) auf das Entstehen des kommunistischen Systems in Rußland dargestellt. 

Dabei rekrutierte sich allerdings 60% der Anhängerschaft der Nazis rekrutierte sich letztendlich aus den o.g. "liberal-konservativen" bürgerlichen Kreisen, letztlich ca. 40% aus einem im weiteren Sinne "Arbeitermilieu".




[label-name="einmarsch-nach-polen"]
## Einschub: "Einmarsch nach Polen"

Neulich habe ich in der ZDF-Mediathek eine interessante Dokumentation über das NS-Zwangsarbeitssystem geschaut, mit dem die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg die Arbeitskraft der Menschen in den besetzten Ländern ausbeuten wollten (ZDFinfo: Hitlers Sklaven - Die NS-Zwangsarbeiter, abgerufen am 06.03.2024). Einige Regelungen, die es dabei gab, haben mich dann doch sehr frappiert, weil sie mich daran erinnert haben, was auch heute wieder in "politisch-gesellschaftlichen Diskursen" wieder aufgebracht wird, um Menschen ungleich zu behandeln:

__"...daß man sich faschistischer Methoden, z.B. einer "selektiven Hungerpolitik", bedient um die Menschen zur Arbeit zu zwingen..."__

__"Hans Frank verhängte eine Arbeitspflicht im besetzten Polen. Wer sich nicht dafür registrieren ließ (und damit "abrufbar" war), hatte keinen Zugang zu Lebensmitteln."__

__"Zwangsarbeiter bekamen weniger Geld als (normale Arbeiter oder als) Deutsche, ... Der Lohn konnte nur im Lager ausgegeben werden."__

__"Die Keimzelle des NS-Zwangsarbeitssystems bildete das "Heer", das im Rahmen z.B. der "Aktion Arbeitsscheu Reich" verhaftet und in Lager verbracht worden war."__

__"Es kann ja kein Unrechtsbewußtsein entstehen. So ein Umgang war normal."__ ... 
__"Das war ja auch deswegen so akzeptabel für die Anderen: Selbst war man ja nicht betroffen."__

Einige der Formulierungen haben mich dann doch echt erstaunt, eben weil es einfach - wenn auch nicht in dieser krassen Form - Parallelen zu heutigen Diskursen gibt, bestimmte Argumentationsmuster oder Verfahrensweisen dann auch heute wieder auftauchen.

Historiker meinen beispielsweise, daß Zwangsschlichtungen, die Arbeitskämpfe in der Weimarer Zeit von Regierungsseite beeinflussen sollten, mit zu einer Schwächung des Vertrauens insbesondere der Arbeiterschaft in die Demokratie geführt hätten (WDR5 Tagesgespräch, 13.03.2024?). Warum wird dann nicht gefragt, ob nicht auch die Einführung einer ~~Zwangsarbeit~~, ~~Arbeitsdienstpflicht~~, Arbeitspflicht in Deutschland dazu geeignet ist, den Staat zu erodieren?

Aber man muß nicht einmal in die NS-Zeit zurückgehen, sondern es würde ja ausreichen, in die Zeit der DDR-Diktatur zurückzugehen: Auch dort erhielt m.W. nur für längere Zeit Geld vom Staat, wer nicht arbeiten konnte, und konnte man sogar dafür bestraft werden, bis hin zu Gefängnis, wenn man keinen Arbeitsplatz hatte (zumindest eben dann, wenn man sich nicht anderweitig unterhalten konnte).

Andererseits mögen Einige dann wieder zwischen den Begriffen einer "Zwangsarbeit" und einer "Arbeitspficht" "differenzieren" wollen. Es ist wohl einfach ein rhetorischer Kunstgriff, mit dem versucht werden soll, zu suggerieren, daß es sich bei etwas, das für die Betroffenen letztlich auf das Gleiche herauskommt, vermeintlich um "etwas Anderes" handle.

Um diese "Begriffsverhedderung" zu illustrieren, ein Vergleich: Angesichts der Corona-Pandemie wurde in Deutschland auch über eine "Impfpflicht" diskutiert und versucht, das von einer "Pflichtimpfung" zu unterscheiden. Man definiert das so: Es werde dann zwar kontrolliert worden, ob die Personen geimpft seien, aber Ungeimpfte würden sich postwendend von der Polizei zum nächsten Impfarzt gefahren und dort gegen ihren Willen "zwangsgeimpft". Allerdings war geplant, Ungeimpfte mit einem Bußgeld zu ahnden. In der Praxis wäre diese Regelung aber für die meisten auf einen "Impfzwang" hinausgelaufen: Denn wenn erst die Geldstrafen sich summiert hätten, hätten sie sich irgendwann impfen lassen müssen. Und wie auch bei der "Arbeitspflicht" hätte man sich die Freiheit von der "Impfpflicht" eben leisten können.

Setzen wir daneben die Betrachtung einer "Wehrpflicht": Folgte man vorheriger Erklärung, hieße das, daß die Betroffenen nicht etwa befürchten müßten, von der Polizei abgeholt und dann zwangsvorgeführt zu werden, um sich an irgendeinem Ort zu "wehren". Das ist aber in der Praxis geschehen: Die armee-eigene Polizeieinheit, die "Feldjäger", holten "Wehrpflichtige" ggf. auch schonmal zuhause ab, damit sie auf der Dienststelle, zu der sie hinzitiert worden waren, ihrer "Wehrpflicht" zu genügen hätten. Also doch ein "Wehrzwang"?



[label-name="kons-arbeitslager"]
## NS-Denken bis 1945 und Konservatives Denken nach 1945: Die "Arbeitslager"-Debatte

[^Arbeitslager-1945]: Benjamin Bauer, "Arbeitszwang gegen 'Asoziale'? Kontinuitäten des KZ Dachau in der unmittelbaren Nachkriegszeit", https://www.idz-jena.de/wsddet/wsd7-15 ; abgerufen am 12.02.2025

Nach 1945 stellten sich viele Menschen aus verschiedenen Gründen dann auch nicht der Frage: Hatten sie Schuld auf sich geladen? Hatten sie eine Mit-Verantwortung für das, was geschehen war, was die Nazis getan hatten? Man hätte behaupten sollen, daß Politiker, die ja in der Zeit mit großen Reden dokumentiert sind, hier ein höheres Maß an eigener Verantwortlichkeit hätten spüren sollen.

Hier ist, wie ich finde, ein eklatantes Beispiel für ein Versagen, oder auch ein Anzeichen dafür, daß letztlich bestimmte Ansichten nicht mit dem Ende des Nazi-Reiches verschwunden waren, und sogar Menschen tief ergriffen hatten, die nicht persönlich in den Nationalsozialismus involviert waren - oder aber, daß das "Nazi-Denken" zumindest bis zu einem gewissen Grade Teil des "normalen Denkraumes" war und blieb. Dieses Beispiel war mir bis dahin unbekannt, aber es für mich frappierend zu sehen, wie weit verbreitet Denken und Handeln der NS-Zeit auch nachher in den Organen vorhanden war, auch in Zeiten, in denen das Nazi-Unrechtsregime noch hautnah vor Augen stand, letztlich nach den alten Denkmustern verfahren wurde. 

Die Darstellung geht hier auf einen Artikel von Benjamin Bauer zurück, der sich mit einem politischen Vorhaben aus dem Jahr 1948 befaßt, NS-Konzentrationslager als Arbeitslager weiter zu betreiben, um dort vermeintlich "asoziale Elemente" weiterhin Zwangsarbeit leisten zu lassen. Also letztlich eine Gruppe, die bereits zu den Opfern der NS-Diktatur zählte, und es wäre gut möglich gewesen, unter den gleichen Vorwürfen wieder in demselben Lager zu landen. [^Arbeitslager-1945]

Die Nazis hatten derartige Begriffe nicht geprägt, aber neben vielen anderen Menschen, die ihnen nicht paßten, auch Menschen verfolgt, die sie als sogenannte "Arbeitsscheue" oder "Asoziale" definierten. Darunter gefaßt wurden etwa Bettler, Landstreicher, Alkoholkranke, Personen, die Alimente nicht zahlen konnten, auch damals als "Zigeuner" bezeichnete Sinti und Roma, Personen, die aus Sicht der Behörden "ungenügende Arbeitsleistung" vorwiesen oder ohne Zustimmung des Amtes eine Arbeitsstelle abgelehnt oder verlassen hatten. Teilweise bestanden Vorschriften zum Vorgehen gegen Menschen "dieser oder jener Kategorie" bereits vorher, so gab es schon seit Jahrhunderten die Einweisung von "Aszozialen" in Arbeitshäuser, in denen sie Zwangsarbeiten verrichten mußten. Diese Maßnahmen wurden von den Nazis indessen verschärft. Welcher Art die "Maßnahmen" waren, konnte sich unterscheiden: Das konnte sein, daß Betreffende mit ihren Familien in "überwachte Wohngebiete" ziehen mußten, in denen letztlich ihre Arbeitstätigkeit als auch ihr Lebenswandel von NS-"Sozialfürsorgern" überwacht und kontrolliert wurde. Es war aber auch - für vermeintlich "Renitente" - die Inhaftierung in einem Konzentrationslager möglich. Auch "Fremdarbeiter" und nicht-deutsche Staatsangehörige waren einer Arbeitsordnung unterworfen, die beispielsweise ihre Bewegungsfreiheit massiv einschränkte. Verstöße waren beispielweise mit der Einweisung in ein "Arbeitserziehungslager" (AEL) bedroht, in dem KZ-ähnliche Zustände herrschten [^Zwangsarbeit]. ... Das Vorgehen der Nazis gegen "Arbeitsscheue" hatte auch den Charakter einer "Vernichtung durch Arbeit". [^Arbeitsscheu-Reich] So wird die Todesrate von Häftlingen, die unter diesen Kategorien, die unter diesen Kategorien in das KZ Dachau eingeliefert wurden, mit 25% angegeben, deutlich über der "durchschnittlichen Todesrate" in diesem Lager.

Wer jetzt einwenden möchte, die Menschen hätten sich ja - im Unterschied zu vielen anderen Gruppen - einfach "anders nur verhalten müssen", um der Verfolgung zu entgehen: Es ist auch hier "nicht so einfach": Letztlich waren auch hier die Entscheidungen des Regimes willkürlich - viele der Personen, die hier diesen "Maßnahmen" unterworfen wurden, waren beispielsweise in Arbeit gewesen. Es wurde auch nicht auf die vermeintliche Gefährlichkeit einer Person abgestellt, sondern auf deren "Arbeitsfähigkeit". [^Arbeitsscheu-Reich] Natürlich wollten die Nazis auch gegen "schlechtes Verhalten" vorgehen und sahen den Kampf gegen dieses als "unendliche Aufgabe". Aber sie gingen - wie in vielen Bereichen - so auch hier in gewisser Weise von einer "erblichen Komponente" aus: Das Verhalten einer Person stets Ausdruck ihrer "rassische(n) Minderwertigkeit", des "rassische Wesens" einer Person. Und wer so argumentiert, muß sich ja dann auch fragen lassen: Denkt er denn, daß ein Mensch diese Behandlung verdient hatte, wie sie die Opfer der Nazis in den Konzentrationslagern erfahren hatten?
Ansonsten gab es aber wegen unklarer Formulierungen oder auch bewußt Schnittmengen beispielsweise mit Juden, gegen die man im Hinblick auf Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte irgendeine Art von Handhabe brauchte - das konnte auch eine kleine Übertretung irgendeiner der vielen immer neuen Vorschriften sein, die damals laufend gegen Juden erlassen wurden.

[^Zwangsarbeit]: https://de.wikipedia.org/wiki/Zwangsarbeit#Zweiter_Weltkrieg
[^Arbeitsscheu-Reich]: https://de.wikipedia.org/wiki/Aktion_%E2%80%9EArbeitsscheu_Reich%E2%80%9C


1948 reichten CSU-Abgeordnete im bayerischen Landtag den Antrag ein, das ehemalige KZ Dachau als "Umerziehungslager für asoziale Elemente' weiter zu betreiben. Die Rhetorik war entmenschlichend, man griff etwa auf Formulierungen zurück, in denen man auf die "bewährte Praxis der Arbeitslager" hinwies. Diese Vorstellungen waren dabei nicht etwa auf einige Wenige beschränkt, sondern dem Antrag wurde vom ganzen Landtag zugestimmt, also nicht nur von allen CSU-, sondern auch von allen SPD-Abgeordneten etc. . Die Politiker fühlten sich dadurch gerechtfertigt, daß es auch auf den Straßen Demonstrationen gegeben auch unter dem schon sattsam bekannten neutestamentlichen Slogan gegeben habe, mit denen diese Politik gerechtfertigt werden sollte. Seltsamerweise war einer der Antragsteller 1933 selbst im KZ Dachau inhaftiert gewesen.

_"(S)owohl in Vorstellung von Asozialität und Arbeitsscheue wie auch in der Rechtspraxis" griff man dabei auf die Zeit des Nationalsozialismus zurück.
So "deutet auch die begriffliche Kontrastierung von 'arbeitsscheuen Elementen' und 'willig arbeitenden Menschen' Residuen spezifisch nationalsozialistischer Arbeitsethik an, die die Anerkennung als Menschen an die Arbeitswilligkeit knüpfte."_

Die sog. "Asozialen" wurden letztlich auf eine Stufe mit renitenten Verbrechern gestellt, die Erfordernis besonders harter Behandlung vielfach herausgestellt:

_"Der Berichterstatter zeigte die Notwendigkeit der Errichtung von Arbeitslagern an der heutigen schwer gefährdeten Sicherheit auf. Wie sich an dem Beispiel des Münchner Hauptbahnhofs erwiesen habe, wirkte die Ankündigung der Einweisung in ein Arbeitslager Wunder. Die bisherige Methode des Einsperrens nütze nichts"_ 

Sie wurden als bedrohliche Masse von "Fremden" dargestellt:

_"Die Arbeitslosen waren aus Sicht der Polizei arbeitsscheu und stammten aus außerbayerischen Gebieten. Die Gefahr sei weitaus größer, denn die Festgenommenen stellten nur 'einen Bruchteil jener Asozialen dar […], die laufend das Agrarland Bayern durchwandern' und 'zum Teil selbst offen zugeben', dass es sich hier 'gut leben lässt und zwar in ihrem Sinne, nämlich ohne Arbeit'. Dieser 'Überflutung' müsse Einhalt geboten werden."_

Daher müsse man auf "das Drohszenario von Zwangsarbeit" zurückgreifen. Dabei dürfe man diese Menschen auch nicht schonen:

So "habe sich die Arbeitsanstalt in Pasing schnell für die Polizei als „ungeeignet“ gezeigt, „weil nicht der nötige massierte Arbeitseinsatz garantiert war und die Leute, nachdem sie sich erholt, ausgeruht und orientiert hatten, wieder flüchtig gingen“. Um diesen Eigensinn der Arbeitslosen zu brechen – das impliziert die Kritik an der mangelnden Arbeitsintensität – forderte die Kriminalpolizei die Einrichtung von Arbeitslagern, in denen die Arbeitsintensität Inhaftierte zur permanenten Erschöpfung zwingen sollte."

Dabei bemerkenswert war, daß eigentlich die Arbeitslosigkeit vielen Berichtern nicht als großes Problem erschien: Hatte es im September 1946 in Bayern noch 316.000 gemeldete Arbeitslose gegeben, waren im Januar 1948 vielleicht nicht einmal etwa 100.000 "vollarbeitsfähige" Personen arbeitslos. Interessant in dem Zusammenhang ist auch, daß viele Menschen auf staatliche Unterstützung verzichteten und sich beispielsweise mit Schwarzhandel durchzuschlagen versuchten - einige Menschen wurden also sowohl bestraft, wenn sie staatliche Leistungen in Anspruch nahmen, als auch wenn nicht.

In der Zeit war auch die Versorgungslage schwierig, es gab gerade im Winter 1947/48 Engpässe bei der Lebensmittelversorgung, woraufhin es zu Arbeiterprotesten und Streiks kam, in denen Beteiligte insbesondere die Erhöhung der Lebensmittelrationen forderten. Andererseits gab es aber auch Slogans wie "Nur wer arbeitet, soll auch essen". Diese gemahnten ja letztlich an die NS-Zeit: Das "neutestamentarische" Spruch ist seinem semantischen Gehalt nach offenbar eliminatorisch. Auch die Forderung nach der denkbar härtesten Behandlung und maximalen Ausbetuung der Arbeitskraft gemahnt letztlich an die vorangegangene Zeit der Diktatur und zeigt offenbar auch ein fehlendes Bewußtsein für den Bruch mit allem Menschlichen, wer von den Nazis gepflegt wurde. Bauer sieht Versuche, ehemalige NS-Konzentrationslager auf diese Weise "umzuwidmen", soggar einen Versuch, Verantwortlichkeit und möglicherweise gar Schuld, die man auf sich geladen hatte, zu verdrängen.

_"Die 'Einweisung von 'Kriminellen' in Konzentrationslager wurde generell nicht als Unrecht wahrgenommen, sondern allenfalls als zu hohes 'Strafmaß' bewertet'. Deshalb 'erschien die Einweisung in die Lager mittels polizeilicher Maßnahme weniger als spezifisches Instrument des nationalsozialistischen Staates, sondern vielmehr als Fortsetzung einer an sich gerechtfertigten Maßnahme'."_

Interessant ist auch, wie lange die "unbezahlte Pflichtarbeit" als Erbe einer "totalitären Fürsorge" erhalten blieb - auch bis weit in die Zeit der BRD. Und offenbar ist, wie die Forderungen der CDU im Wahlkampf von 2025 zeigen, dieses Denken immer noch vorhanden.

Sei es wie es sei, eigentlich verbot sich schon aus moralischen und historischen Gründen, weil man das ja gesehen und erlebt hatte, die Einrichtung solcher "Lager".

Sie läßt die Frage stellen: War nun "der Nazi" a. mit Kriegsende "ausgestorben", oder war nicht vielmehr dieses Denken noch da? Oder b. war sein Denken von vornherein etwas "abartig Besonderes", gewissermaßen ein "Fremdkörper der Gesellschaft", die ja immer bestrebt ist, Menschen als "fremd" zu definieren und auszusondern, oder war es nicht sogar ein Denken, das - zumindest zu Anfang - von einem Großteil der Bevölkerung geteilt wurde? 




### Ökonomische Faktoren

Einerseits ist bekannt, daß die Zustimmung der Menschen zur Demokratie insbesondere auch von ihren Geldbeuteln abhing: In Umfragen der frühen Nachkriegszeit stimmte noch ein Großteil der Menschen der Aussage zu, "der Nationalsozialismus (sei) eine gute Idee gewesen, nur schlecht umgesetzt" worden. Diese Auffassung reduzierte sich auch dadurch im Laufe der 1950er Jahre, je zufriedener die Menschen mit der Entwicklung ihres Lebensstandards waren. Als es den Menschen nach Jahren der Entbehrungen ökonomisch wieder besser ging, wurden sie insofern auch mit der Demokratie "versöhnt".


[label-name="obrigkeitsstaatlichkeit"]
### Traditionen obrigkeitsstaatlicher Erziehung

Andererseits ist eine weit verbreitete historische Meinung, daß die Menschen in der Zeit vor 1933 so sehr auf ein bestimmtes Denken geprägt waren, daß sie das Handeln der Nazis zunächst gar nicht als so "befremdlich" ansahen. Deswegen wurden ja auch die drastischsten Maßnahmen nicht zu Beginn der Nazi-Herrschaft erteilt, sondern schrittweise die Repressionen und Drangsalierungen erhöht. Erst einmal gingen die Nazis in vielen Bereichen "nur um einen Schritt weiter", als die Mehrheit der Menschen ohnehin dachte, starteten hin und wieder mal "Versuchssballons", die teilweise zunächst wieder einkassiert wurden, weil die "öffentliche Meinung" von der Propaganda noch nicht hinreichend darauf "vorbereitet" war, diese Maßnahmen zu akzeptieren. Am Anfang hätte es vielleicht noch Widerstand gegeben, hätten die Nazis direkt angefangen, Menschen in industriellem Maßstab umzubringen, aber es gab eigentlich keinen Widerstand gegen die Einrichtung von Konzentrationslagern - weil man ja schon "so ähnlich dachte". So ist aber auch die Frage, in wieweit die Menschen, die zwölf oder möglicherweise zwanzig Jahre lang mit diesem Denken infiziert worden waren, letztlich auch mehr und mehr von den NS-Vorstellungen übernommen hatten.

Das betrifft dabei auch Gruppen, die traditionell doch eigentlich vom Machtapparat des Kaiserreiches bekämpft worden waren, etwa die Sozialdemokratie. Aber auch sie wurden letztlich auf vielerlei Weise vom Denken des Kaiserreichs - sogar bis in die NS-Zeit hinein - beeinflußt. Man kann dies beispielsweise an Positionen von Sozialisten und Sozialdemokraten auch in ihrer Zeit jeweils aufzeigen.

[label-name="sozialdemokratie"]
> * Erziehung zum obrigkeitsstaatlichen Denken [^Autoritaer-Sozdem]
> * Haß auf das sog. "Lumpenproletariat" - bis hin zur Entwicklung eugenischer Vorstellungen [^Proletarier]
> * Vorstellung vom eigenen "Elite-Sein" [^Autoritaer-Sozdem],[^Proletarier]



**Michael Schwartz, "Proletarier und Lumpen - Sozialistische Ursprünge eugenischen Denkens" [^Proletarier]**


In gewisser Weise ist dieser auch als Reaktion auf rhetorische Figuren zu verstehen, die letztlich Arbeiter pauschal als "moralisch verderbt" bezeichnet hatten. Die "unteren Schichten" sind insofern den "konservativen Obrigkeiten" "auf den Leim gegangen", als sie sich haben spalten lassen. Der Haß auf das sog. "Lumpenproletariat" zeigte letztlich sogar Züge eines "eugenischen Denkens", bei dem selbst Opposition das Vorgehen der Nazis in Sachen "Erbgesundheit" begrüßte. Die Sozialdemokraten haben letztlich die in bürgerlich-konservativen Kreisen formulierten negativen Vorstellungen gegen die Proletarier übernommen und unter Übernahme "gängiger geistiger Entwicklungen" ihrer Zeit zu einer eigenen Vorstellung von Eugenik und "Menschenzucht" ausgebaut. Neben die Argumentationslinie, die Menschen seien arm oder würden zu ihrem Lebensunterhalt "zweifelhaften Betätigungen" nachgehen, weil sie Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse seien, trat schnell die moralische Kritik, es sei doch wohl ihr Verhalten bzw. eine "falsche Einstellung" dafür verantwortlich (also der Glaube, den Menschen ein "richtiges Verhalten" und "richtigen Charakter" vorschreiben zu können), schließlich aber die Vorstellung, diese Menschen seien prinzipiell unfähig zu einer Änderung dieses Verhaltens, aufgrund erblicher Vorbelastungen. Letztlich wurden also immer mehr Unterscheidungskriterien herangezogen, um das "Anders-Sein" dieser Menschen zu definieren und seinen Haß auf diese zu artikulieren.


**(a) Ursprung im Bürgertum**

Der Begriff des "Proletariats" entstand im Bürgertum ab ca. 1830 als Ersatz zu dem alten Begriff des "Pöbels". Damit wurden alle jene Unterschichten bezeichnet, die sich mehr schlecht als recht selbst ernähren konnten, die allgemein als "verächtlich oder bemitleidenswert, unerwünscht und gefährlich" wahrgenommen oder angenommen wurden. Objektiv war die Wahrnehmung des Elends dieser Menschen, stark subjektiv oder aber klischeehaft war allerdings die Vorstellung, diese stellten eine Gefahr für die Gesellschaftsordnung dar (auch im Hinblick darauf, daß man dachte, diese Ordnung müsse so sein), schließlich aber wurde auch die von alters her gepflegte moralische "Herrenvorstellung von der Faulheit des Knechts" erneuert - wenn der Proletarier arm sei, se sei er das deshalb, weil es ihm an "Fleiß und Sparsamkeit" fehle: "Deshalb wurden denen, die nicht aus eigener Anstrengung nach oben kamen, nur allzu rasch 'Sittenverfall, Roheit, Arbeitsscheu und unmoralisches Anspruchsverhalten' attestiert." Das Ziel derartiger Verbreitungen war auch, eine Solidarisierung der Mitglieder der Unterschicht zu erschweren: Friedrich Harkort schrieb in seinen "Briefe(n) an die Arbeiter", daß die "braven Arbeiter" doch wahrnehmen müßten, welch ein Gesindel die "deklassierten Proletarier" doch seien, die durch alle möglichen unmoralischen Verfehlungen gekennzeichnet seien.

Es zeigt sich aber auch hier bereits das Bestreben der Reichen, gerade diejenigen zu geißeln, die aus ihrer Sicht ihren Reichtum schmälerten. Friedrich Harkort gilt für die FDP als einer der "Pioniere des Liberalismus". Er galt in seiner Zeit als "fortschrittlich-liberal" und beschäftigte sich in Schriften, wie etwa "Über die soziale Frage" als auch in seiner politischen Tätigkeit durchaus mit Ideen, die soziale Lage der Arbeiter zu verbessern: Er forderte ein Verbot der Kinderarbeit, eine Verbesserunng der Schulbildung und eine Gewinnbeteiligung der Arbeiter an ihrem Unternehmen. Freilich aber erstens für die Arbeiter:

"Harkort charakterisiert(e) (...) den Unternehmer als fleißig, der das Investitionsrisiko trägt, der zum Wohlstand verhilft, die Barbarei abwendet und dem Leistungsprinzip unterliegt. Den Arbeiter klassifiziert er als den 'braven Arbeiter' oder den Proletarier. Ersteren habe Gott mit gesundem Menschenverstand und der Kraft seiner Hände gesegnet. Daher müsse jener auch durch soziale Einrichtungen unterstützt werden. Der Proletarier hingegen sei verwahrlost, bringe seinesgleichen zur Welt, habe sein Handwerk nicht erlernt, beraube andere und bilde den Krebsschaden der Kommune. [^Harkort] Diese Vorstellung haben offenbar auch die Sozialdemokraten übernommen.

> Das "soziale Grauen", das mit den Proletariern einhergehe, nötigte ihm aus seiner Sicht die Forderung ab: "Warum sorgen die Gemeinden selbst nicht besser für die Ausrottung dieser Zuchthauskandidaten?" [^Proletarier] 
>
> Wir lassen den Begriff für einen Moment auf uns wirken: Harkort hatte sicherlich nicht die Vorstellung, daß die Menschen zusammengetrieben und ermordet werden sollten. Vielmehr dürfte er so etwas wie die Verbringung in "Arbeitshäuser" im Sinn gehabt haben, wo sie Zwangsarbeit hätten verrichten sollen, um sie - nach den Vorstellungen des 19.Jahrhunderts - zu "geregelter Arbeit zu erziehen. "Ausrottung" kann in dem Sinne auch heißen, bestimmte soziale Verhältnisse oder Praktiken zu beseitigen, etwa den Analphabetismus, oder eine Krankheit zum Verschwinden zu bringen wie etwa die Pocken. [^Ausrottung] Der Begriff hat sich später in dem Maße, wie "Lumpenproletarier" nun auch biologisch als "Schädlinge" oder "Ungeziefer" bezeichnet wurden, eben auch im Hinblick auf einen tatsächlichen Vernichtungsdanken gegen Menschen verändert - wobei ursprünglliche Gedanken von "Gesundheitsschutz" und "Arbeitserziehung" weiterhin vordergründig kommuniziert wurden bzw. die Vernichtung in den Dienst der vorgenannten "Ziele" gestellt wurde. [^Blank] Die Menschen - auch die sich als "praktizierende Nicht-Bürgerliche" sehenden - haben sowohl zunächst diese Begrifflichkeit übernommen als, wie sich zeigen wird, auch die Bedeutungsveränderungen mitgemacht. Diesen Charakter hat der Begriff auch noch heute. [^Ausrottung-Ueberfremdung] Andererseits konfrontierten auch die Nazis die Menschen ja zunächst nicht mit Plänen zum Massenmord an Stigmatisierten (wenn auch entsprechende Liedtexte in sich als "Elite der Bewegung" sehenden Gruppierungen verbreitet waren), man behielt sie vielmehr auch bis zum Ende mehr oder weniger in dem ambivalenten Charakter eines "offenen Geheimnisses"...

[^Ausrottung]: https://proxyelite.info/de/glossary/eradication/	, abgerufen am 28.03.2025; etwas merkwürdige Fundstelle
[^Blank]: vgl. etwa die Dokumentationen von Holger Blank: "Entlausung und Entjudung - Fleckfieber und Vernichtung 1+2" "Die Vernichtung Lebensunfähiger - Euthannasie, Endlösung, volkstümliche Ausrottung", Verlag N.N., jew. 2021/2022; hier vgl. etwa "EuE" Bd.2, Kap.7.2, Kap.8
[^Ausrottung-Ueberfremdung]: "Eine laut BpB weitere und jahrzehntealte These der vermeintlichen „Überfremdung“ ist die angeblich 'systematische Ausrottung des eigenen Volkes' ..." , zit. N.N., Floskel des Monats - "Überfremdung"; https://www.journalist.de/blog-detail/ueberfremdung/ , abgerufen am 28.03.2025

Die etwas bessere soziale Situation der Arbeiter sollte sich aus seiner Sicht aber auch nicht in politischen Rechten niederschlagen: "Gegensätze in der Gesellschaft wollte er durch moderate Reformen und 'patriarchalische, bürgerliche Impulse' miteinander versöhnen. Das Volk glaubte er nicht reif für die Politik, es könne keine Verantwortung übernehmen. [^Harkort]

[^Harkort]: vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Harkort , abgerufen am 19.03.2025

Die Vorstellung war, daß die Arbeiter Sozialleistungen als auch ein Einkommen, von dem man leben könnte, nicht als Rechte, sondern als Gewinnbeteiligungen ansehen sollten. Das heißt aber auch, daß Rechte letztlich "nicht einklagbar" sein konnten.



> Wo Karl Marx das "Lumpenproletariat" immer noch als Opfer der Industrialisierung ansah, rückten in der Folgezeit immer stärker Vorstellungen in den Vordergrund, diese Menschen seien durch ihr Verhalten und Denken selbst für ihre Situation verantwortlich. Schließlich entstanden aber sogar biologistische Vorstellungen, die letztlich das grundvermögende Unvermögen solcherart ausgesiebter Menschen zur Entwicklung behaupteten: Das geschah in dem Maße, als auch in der Gesamtgesellschaft des späteren 19.Jahrhunderts der vermeintliche "wissenschaftliche Rationalismus" sich ausbreitete. Grundlegende Erkenntnisse über die Erbbiologie (z.B: Gregor Mendel) und über die Entwicklung des Lebens (z.B. Charles Darwin) entstanden - wurden andererseits aber z.B. in der Theorie des "Sozialdarwinismus" (und auch später in der Vererbungslehre der Nazis, siehe Begriffe wie "Halbjuden", "Vierteljuden" etc.) "verballhornt". Durch  vermeintlich "wissenschaftliche Theorien" von Sozialdarwinismus und Erbgesundheit/Eugenik erhielten dann letztlich auch "traditionelle" abwertende Vorstellungen gegenüber Minderheiten, gegenüber Armen etc. wieder eine neue oder zusätzliche vermeintliche "Argumentationsgrundlage" und konnten sich ebenfalls neu ausbreiten, auch in der Sozialdemokratie. Wo Kritik an dem "Lumpenproletariat" zunächst "moralisch" urteilte und auf das vermeintliche Verhalten der Betreffenden abstellte, so wurde sie immer stärker "biologisch".


**(b) Kritik an den ökonomischen Verhältnissen**

Der Begriff des "Lumpenproletariats" wurde demnach zuerst von Karl Marx gebraucht, womit er letztlich einen Bodensatz von "ruinierten Bourgeois und ruinierten Proletariern" verstanden wissen wollte, den "Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen", die sich einerseits durch zweifelhafte oder niedrigwertige Tätigkeiten oft mehr schlecht als recht über Wasser hielten, moralisch verkommen und/oder kriminell seien oder letztlich "gegen den Druck der Bourgeoisie widerstandslos geworden (...) und (...) aller Energie beraubte Proletarier (,letztlich) Pauper“ seien. Wenn auch ein paar dieser Menschen durch die revolutionäre Bewegung "aktivierbar" seien. Aber die meisten seien zu unzuverlässig und unfähig, ein "proletarisches Klassenbewußtsein" zu entwickeln - und damit letztlich keine validen Bündnispartner für die Arbeiterbewegung. Viele von ihnen seien schließlich sogar eine Gefahr für die Arbeiterbewegung, würden sie doch ihrer ganzen Lebenslage nach "bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen", um als "Mobilgarde der Reaktion" zu fungieren. [^Lumpen] 


**(c) Verurteilung des Verhaltens**

Auch Marx und bereits Autoren kurz nach ihm stellten bereits auf eine zweite Ebene von Erklärungen für Unterschiede ab, nämlich das (vermeintliche) Verhalten bzw. Bewußtsein der unterschiedlichen Akteure.

Letztlich haben in dieser Definition die Sozialisten die "Vorurteile der Bürgerlichen gegenüber dem Pöbel" übernommen, sie letztlich an die aus ihrer Sicht "nächstuntere Gruppe" weitergegeben. Dementsprechend unterteilten auch die Arbeiter und ihre Vordenker die Arbeiterschaft in die "guten Arbeiter", die alle positiven Eigenschaften hatten, und die "faulen und/oder unmoralisch sich verhaltenden Lumpen". 

"Wer zur Schicht gehört und der ihr zugeschriebenen Funktion nicht genügt, verhält sich inadäquat", so Theodor Geiger - und gehörte aus ihrer Sicht dementsprechend ausgegrenzt: Der in der Arbeiterbewegung organisierte "Arbeiter und Arbeitergeselle(.)" hatte ein Standes-Selbstbewußtsein ("zu haben"), sich als "eine Art Aristokratie" innerhalb der Arbeiterschaft anzusehen und sich von dem als "Bodensatz" oder als "Bestandteil der kriminellen Welt" angesehenen Proletariat abzugrenzen. Das war von dem Bewußtsein getragen, "daß man fleißig ist", "ein Einkommen (hat), das diese Selbstachtung ermöglicht(.)".

Diese Vorstellung war etwa von Eduard Bernstein als Anspruch beschrieben worden, "den Arbeiter aus der sozialen Stellung eines Proletariers zu der eines Bürgers zu erheben und so das Bürgertum oder Bürgersein zu verallgemeinern". Die Arbeiter haben damit die Versprechungen der Liberalen gewissermaßen "beim Wort genommen", daß Fleiß letztlich zum gesellschaftlichen Aufstieg führe. Mag auch sein, daß sie durch Pochen auf "moralisch korrektes Verhalten", "Strebsamkeit" etc. der Propaganda der Bürgerlichen begegnen wollten.

Schon Stefan Born, Führer der "Arbeiterverbrüderung" von 1848, unterschied neben den drei Ständen von Klerus, Adel und Bourgeoisie noch mehrere weitere Stände, (4.) die hochqualifizierten Facharbeiter, (5.) die ungelernten Tagelöhner und (6.) das "Lumpenproletariat".

Der qualifizierte Facharbeiter wollte sich gewissermaßen als "Elite" des Proletariats sehen und übte Abgrenzung gegenüber den nicht in der Arbeiterbewegung organisierten als auch gegenüber den nicht-qualifizierten Teilen der Arbeiterschaft.

> Man formulierte immer die Hoffnung auf einen sozialen Aufstieg, den man durch Fleiß und Bildung erwerben wollte, ängstigte sich aber insbesondere vor dem sozialen Abstieg - man verachtete den "Typus der toten Seelen" in gewisser Weise auch. Und immer war diese Abgrenzung auch von der Vorstellung geprägt, daß diese Leute nicht zum "Zielbereich der Sozialdemokratie" (Zitat Rosa Luxemburg) gehörten, die Arbeiterbewegung sie gar nicht vertrete. Wie August Bebel meinte: "Die sozialistische Gesellschaft bildet sich nicht, um proletarisch zu leben, sondern um die proletarische Lebensweise der großen Mehrzahl der Menschen abzuschaffen." Und wer "nicht entproletarisierbar" sei, den könne man auch nicht vertreten, mit dem nicht solidarisch sein. Bereits nach Auffassung von Marx waren diese Leute, die sich "nicht adäquat verhielten" letztlich Büttel der reaktionären Gewalten und des Kapitals, "nicht in die Klasse des Proletariats gedrängte(.) Opfer des Kapitalismus".

Wo immer Gruppen gegeißelt wurden, Vertreter dieses angeblichen "Lumpenproletariats" zu sein, waren diese Gruppen andererseits immer bestrebt, sich in Abgrenzung zu diesem zu definieren, dieses also auszuschließen. So haben beispielsweise die Sozialdemokraten den Kommunisten vorgeworfen, "Vertreter eines Lumpenproletariats" zu sein. Das ist letztlich soziologisch nicht haltbar. Nichtsdestotrotz versuchten - wie zuvor die Sozialdemokraten - dann auch die Kommunisten, sich von dem "Lumpenproletariat" abzugrenzen.

Andererseits haben aber auch die Kommunisten diese von außen formulierte Propaganda, bei ihnen handle es sich um "Lumpenproletarier", weitergereicht: "(I)m sozialistischen Staat (werde es) ein Lumpenproletariat so wenig geben wie eine Bourgeoisie. Für Asoziale hatte der Sozialismus keinen Platz, herrschte doch die Vision einer völligen Integration in die sozialistische Arbeits- und Leistungsgesellschaft: Da wird keiner verlumpen, weil alles in geregelter Thätigkeit sein und jeder Mensch (...) geregelte Thätigkeit und sein menschenwwürdiges Dasein haben wird." (sic!).

> Wie sich mehr und mehr herausstellte, waren aber auch die Bürgerlichen nicht bereit, Arbeiter auch an der Macht zu beeinflussen, und haben dann eher ihren Pakt mit den "alten Gewalten" geschlossen, um ihre selbst reklamierten "Besitzrechte" zu schützen. [^Kuehnl] Andererseits spielten die Arbeiter mit dieser Denkweise aber auch den Bürgerlichen "in die Hände", weil sie einerseits mit dem Abstellen auf den Fleiß die Profite der Industriellen mehrten, andererseits durch die Ausgrenzung aber auch an politischer Schlagkraft und an Wählerpotential einbüßten.

> Es ist ja sprichwörtlich auch für den Sklavenhalter wünschenswert, wenn der Sklave mit der Sklaverei einverstanden ist.
>
> Eine derartige Aufteilung funktionierte später auch "sehr gut": Der Mensch sieht sich selbst ja nie als "liederlich", auch wenn er von Anderen so gescholten wird. Insofern denkt man ja nie, daß man selbst auch "mit gemeint" sein könnte, wenn ein Agitator von den "Liederlichen", "Faulen" etc. spricht. Auch unter den von den Nazis beständig stärker drangsalierten und angegriffenen Juden gab es durchaus die Vorstellung, daß mit der Agitation ja "nur" die als "nicht integriert" angesehenen "Ostjuden" gemeint seien, die sich vermeintlich durch ihre Kleidung von den "assimilierten deutschen Juden" unterschieden oder denen man unterstellten, "unehrlichen Tätigkeiten" nachzugehen, einen "liederlichen Lebenswandel" zu pflegen etc.. Wie gesagt, ein paar glaubten das.
>
> Es war andererseits auch Bestandteil des "kommunistischen Verständnisses", daß es im "kommunistischen Staat" kein Lumpenproletariat, keine "Asozialen" mehr gebe - insofern war es auch Bestandteil des kommunistischen Selbstverständnisses, den Bürgern eine Arbeitspflicht zu verordnen, andererseits Prostitution, Glücksspiel etc. zu bekämpfen.

Durch die Übernahme bürgerlicher Verhaltensnormen wollten die Sozialdemokraten als auch die Kommunisten sicherlich auch für breitere Kreise "respektabel" werden. Diese Ausgrenzung hat aber offenbar die Arbeiterbewegung auch geschwächt: Selbst in den "besten Zeiten", als die SPD zu Ende des Kaiserreichs bis zu 35% der Wählerstimmen auf sich vereinte, reklamierte sie durch diese Ausgrenzung indirekt für sich selbst, quasi die Hälfte des Proletariats gar nicht erst zu vertreten. 




> Dabei wurde aber mehr und mehr auch nicht mehr das Verhalten des Einzelnen betrachtet, sondern letztlich durch Klischees ersetzt: Wer der entsprechenden Schicht der "Lumpenproletarier" angehörte, dem wurde unterstellt, sich auch so zu verhalten, den entsprechenden Charakter zu haben. Es wurden "gleichsam die Tätereigenschaften der Opfer in den Vordergrund (ge)rückt(.)."

> Hieran zeigt sich bereits wieder die Übernahme einer "statischen" Vorstellung, wie sie von den "alten Gewalten" gepflegt worden war, in gewisser Weise aber bereits "vorwissenschaftlich-biologistischen" Vorstellung: In der noch vom mittelalterlichen Denken geprägten Gesellschaft waren ja Standesgrenzen kaum durchlässig, war man quasi von Geburt an auf einen Stand im Leben und gewisse Aufgaben im Gefüge der Gesellschaftsordnung festgelegt. Man ging also davon aus, daß das Schicksal des Menschen letztlich "durch die Abstammung determiniert" sei. Diese Vorstellung wurde in der Folgezeit mit der Entwicklung der Naturwissenschaften und den Versuchen zu ihrer Übernahme in die Gesellschaftslehre zu einer "biologischen Erklärung" für die Unterschiede der Menschen überformt: In der biologistischen Erklärung wurde letztlich eine neue Erklärung oder sogar Rechtfertigung für die alten Unterschiede formuliert.


**(d) Biologische Kritik**

Einerseits kritisierte beispielsweise Erich Mühsam um 1910 das Gebaren der SPD, daß diese "in ihrem Ehrgeiz, im Gegenwartsstaat mitzutun, als Rad in der Maschine anerkannt zu werden und den Interessen der Arbeiter zu nützen, (...) aus Proletariern (..) Kleinkapitalisten zu machen (gesucht habe)" - also letztlich versuchte, den Interessen der bis dato so gescholtenen Kapitalisten zu nutzen, andererseits sich weiterhin gegenüber den unteren Schichten abgrenze. Andererseits meinte aber auch er an anderer Stelle, er habe das "Lumpenproletariat" neben einer Minderheit "wirklich famose(r) Kerle", die aus seiner Sicht erreichbar und "aktivierbar" seien, als eine "Menge von Psychopathen, dummen Jungen, geldgierigen Deklassierten" erlebt: "(I)m fünften Stande" sei der "Prozentsatz der Geisteskranken, Phantasten, Hysteriker usw." erschreckend groß; für ihn bleibe es „eine offene Frage", ob ihr Geisteszustand für ihre miserable soziale Lage verantwortlich sei oder umgekehrt. Diese Einschätzung bot auch einer sich ausbreitenden biologistischen Vorstellung Raum.

Die Ausbreitung dieses "sozialdarwinistischen Denkens" führte überdies auch innerhalb der Arbeiterbewegung zu einer Schwächung der Solidarität: So kursierten dann letztlich auch Statistiken, in denen die Arbeiter nach Berufsgruppen untergliedert wurden, wieviele Kinder eine durchschnittliche Familie in dieser Gruppe jeweils habe. Letztlich wurde konstatiert, daß je höher das mittlere Einkommen sei, um so geringer auch die statistische Kinderzahl sei. Andererseits wurde letztlich so eine "unterschiedliche eugenische Wertigkeit" unterschiedlicher Berufsgruppen - und wie süffisant bemerkt wurde - auch von Funktionären der sozialdemokratischen Partei suggeriert.

Anhänger der Eugenik sprachen nicht mehr (jedenfalls nicht mehr nur) von den gesellschaftlichen Verhältnissen, die Menschen unterdrückten, oder dem "prinzipiellen Unwillen" der "Lumpenrproleriats", sich in der Arbeiterbewegung zu engagieren, nicht nur von der "prinzipiellen Unfähigkeit" oder dem "moralischen Fehlverhalten" der Betreffenden, sondern propagierten gleich auch die strikte Ausgrenzung des "Lumpenrpoletariats": Diesen sollte gar nicht einmal die Möglichkeit zur Organisation gegeben werden.

* Gustav Radbruch, "prominente(r) Strafrechtslehrer und sozialdemokratische(r) Ex-Reichsjustizminister" (der auch nach 1945 noch eine Rolle spielen würde) führte im Jahr 1926 „die Delinquenz des Lumpenproletariats und mit ihr die schwere Delinquenz Mord, Sittlichkeitsverbrechen, Gewerbsdiebstahl" durch „biologische Entartung". Der „Lumpenproletarier" wurde somit zum geborenen Schwerkriminellen und Gewohnheitsverbrecher erklärt.

* Otto Landsberg, immerhin ehemaliger Reichsjustizminister, bezeichnete im Rahmen einer Reichstagsdebatte am 07.12.1927, wo es - bereits damals - um die Anwesenheit von vermeintlich "unproduktiven" und/oder kriminellen Migranten ging, die schon abwertend als "ausländisches Gesindel" bezeichnet wurden -, "im Lande gebe es bereits 'genug einheimisches Ungeziefer, das man sehr gut entbehren könnte' ". Diese Äußerung, die Menschen, die sich aus seiner Sicht "nicht aqäduat" verhielten, mit Schadinsekten gleichsetzte, blieb auch unter Sozialdemokraten weitgehend unwidersprochen.

Auch "unter sozialdemokratischen Gesundheits- und Wohlfahrtsexperten" war es schließlich Konsens, "daß ein Großteil des vom Proletariat klar unterschiedenen 'Lumpenproletariats' erblich minderwertig sei und deshalb in seiner Fortpflanzung eingeschränkt werden müsse".

> Das "Elite-Denken" der Arbeiterbewegung erhielt in dieser Zeit auch eine biologistische Komponente: Ein Karl Valentin Müller, ein für die freien Gewerkschaften in Thüringen tätiger Soziologe, habe aufgrund von Befragungen festgestellt, der Großteil der qualfizierten Arbeiter stamme "aus früheren Mittelstandsfamilien", während 75% der an- und ungelernten Arbeiter aus dem "Milieu der An- und Ungelernten kämen". 
> 
> Er leitete indessen daraus eine unterschiedliche "eugenische Wertigkeit" ab: Er sah in den Mitgliedern der organisierten Arbeiterbewegung die "sozialbiologische Elite der proletarischen Bevölkerung", "im "Lumpenproletariat und in der ungelerhten Arbeiterschaft sah er eine "eugenisch minderwertige" Masse. Letztlich war das aber auch mit einer Abschätzigkeit gegenüber dem Proletariat als solchem verbunden: Die Mitglieder der organisierten Arbeiterbewegung seien aufgrund ihrer Abstammung "latenter Mittelstand", der nur durch die Verhältnisse in diese Situation gekommen sei.
>
> So sei es letztlich nur natürlich für sie, die "Proletarisierung" abzulehnen: Der Arbeitskampf sei auch ein "Kampf von Rassenwerten gegen ein Milieu der Verkümmerung und Herabzüchtung". Im "Lumpenproletariat" und der "ungelernten Arbeiterschaft sah er eine eugenisch minderwertige Masse. "Er erklärte den sogenannten 'Bevölkerungsballast' der Minderwertigen für einen schlimmeren 'Ausbeuter der produktiven Arbeit' als 'sämtliche Industriekönige zusammengenommen'." "Nur eine eugenisch gehobene Arbeiterschaft" könne im Gegensatz dazu "die Fähigkeit besitzen, 'ihrem Volke Führerin und Wegweiserin zur Erfüllung sozialer Aufgaben zu werden'." Müller propagierte die "Eugenik oder 'Rassenhygiene [...] als sozialistisches Kampfmittel': Unter 'rücksichtslose[r], wenn möglich zwangsweise[r] Unterbindung des Nachwuchses aus dem 'Bevölkerungsballast', den man schon allzu lange mit sich schleppe, gelte es, möglichst rasch 'eine möglichst fähige sozialistische Unternehmerschicht und möglichst willige und kluge sozialistische Qualitätsarbeiterschichten [zu] züchten und [zu] erziehen". 

Das ist eine Auffassung, die schon ziemlich anschlußfähig an die spätere NS-"Soziologie" ist: "Ungeziefer" - Schadinsekten - tötet man nun einmal, ohne mit der Wimper zu zucken. Man sieht das sogar als "geboten" an, um die Bevölkerung zu schützen. Von der Bezeichung von Menschen, die sich "nicht adäquat" verhalten, als "Ungeziefer" ist es dementsprechend nicht weit bis zu ihrer Tötung.

* Die Auffassungen zur Sozialpolitik in den 1930er Jahren waren stark "erbbiologisch" geprägt: Auch in der Arbeiterbewegung seien „starke Tendenzen zu einer Naturalisierung der Gesellschaft und ihrer Entwicklung" aufgetreten. Sozialpolitik wurde - „wenn schon sozialdarwinistisch gedacht sein muß" (was ja von ihnen quasi als Notwendigkeit postuliert wurde) - so verstanden, daß eine wirklich effektive Auslese nur „unter wesentlich gleichen Bedingungen" möglich sei; erst dann könne "sich zeigen, wer wirklich überlegen ist". Solche Bedingungen seien jedoch durch die „objektive Ungleichheit" in jeder Kulturgesellschaft nicht gegeben. Ziel der Sozialpolitik solle es deshalb sein, "diese Ungleichheit wenigstens nicht ins Ungemessene wachsen zu lassen". Dies habe mit „Förderung Minderwertiger nichts zu tun", sondern solle einer (sach-)gerechteren Auslese dienen.

* Die Sozialdemokraten im Reichstag haben letztlich nicht politisch gefordert, Menschen umzubringen oder sie zwangsweise zu sterilisieren. 1931 wurde zwar ein Antrag eingebracht, wonach "ein (...) Gewohnheitsverbrecher", dessen "schlechte Erbanlagen bei der Nachkommenschaft wieder auftreten" könnte, die Möglichkeit haben sollte, sich freiwillig unfruchtbar machen zu lassen. Dieses Gesetz ist indessen letztlich nicht zustandegekommen, weil man nicht die Zustimmung der NSDAP riskieren wollte. Im preußischen Landtag indessen beschlossen letztlich "alle Parteien" die Einführung einer sog. "differenzierten Fürsorge", wonach die "Entartung des Lumpenproletariats durch ein sofortiges und nachdrückliches Eingreifen des Staates bekämpft werden müsse". Das war auch zustimmungsfähig bei der KPD (die ja ebenfalls zuvor von der SPD als "Lumpenproletariat" beschimpft worden war), dort lehnte man diesen Beschluß anscheinend eher "aus prinzipiellen Gründen" (Fundamentalopposition?) denn aus grundsätzlicher inhaltlicher Ablehnung ab.

* Die Sozialdemokraten sahen ja auch in der SA vielfach die Vertreter eines "Lumpenproletariats", von Schlägern und Kleinkriminellen. Die NS-Bevölkerungspolitik habe gerade dessen Stärkung bewirkt (also ging man auch hier wieder von einer "Erblichkeit" aus), indem sie "deutschen Volksgenossen" finanzielle Privilegien eingeräumt hätte, wenn diese mehr Kinder in die Welt setzten. Das sei gerade für ärmere Bevölkerungsgruppen attraktiv. Bspw. Hans Fehlinger kritisierte diese finanziellen Privilegien für Kinderreiche, diese würden "gerade die Arbeitsscheuen, Trinker und Minderwertigen in Anspruch nehmen, um schließlich ihren Lebensunterhalt aus staatlich prämierter Kindererzeugung und nicht mehr aus Arbeit zu bestreiten". Auch die Sopade (Exilorganisation der SPD) kritisierte, Hierdurch werde "eine Art Lumpenproletariat erzogen"; man setze "bedenkenlos Kinder in die Welt", erhalte "dafür erhebliche Zuwendungen vom Staat" und brauche dann "nicht so eifrig nach Arbeit zu rennen". Die "Deutschland-Berichte" der Sopade beurteilten indessen 1938 die eugenische Selektion, wie sie beispielsweise durch das von den Nazis erlassene "Erbgesundheitsgesetz" vorgeschrieben werde, positiv: "dessen 'allgemeine Tendenz' - nämlich Eheverbote gegen Minderwertige zu verhängen - (sei) 'nicht zu beanstanden'."

Dennoch (und insofern) zeigt sich, wie breit der gesellschaftliche Konsens für die Maßnahmen der Nazis doch offenbar in 1933 und auch noch mindestens in den frühen Jahren der NS-Diktatur war: Die Nazis griffen in der Bevölkerung durchaus weit verbreitete Stimmungen auf, gingen zu Anfang in vielen Bereichen oft nur punktuell über die "geltende Auffassung" hinaus und suchten durch Propaganda die "gesellschaftliche Auffassung" weiter in ihrem Sinne zu beeinflussen und zu verstärken.



**(e) Wirkung auf die Folgezeit**

Es zeigt sich, daß sich da sehr unheilige Traditionen etabliert haben: 

Die Geißelung der Kommunisten als "Lumpenproletariat" beeinflußte letztlich das Verhältnis zwischen den Sozialdemokraten und den Kommunisten, auch in der Weimerer Republik und reduzierte die Fähigkeit zum Widerstand gegenüber dem NS-Regime. 

Die Übernahme bürgerlicher Moralvorstellungen wirft letztlich auch ihre Schatten voraus bis auf die Zeit der Weimarer Republik: So führte letztlich zu einer Umwertung "alter Werte der Arbeiterbewegung", indem nunmehr revolutionäre Arbeiter als "barrikadensüchtige Lumpe" dargestellt wurden, zum Zerwürfnis zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, das die Republik belastete: Als es um die Entscheidung ging, wie die neue Gesellschaft aussehen sollte, verbündeten sich die Sozialdemokraten mit den "alten Gewalten" und gingen auch mit Gewalt gegen die Kommunisten vor. Die Erinnerung wurde letztlich immer wieder herangezogen (vgl. etwa die These des "Sozialfaschismus", indem die Kommunisten die Sozialdemokraten letztlich als Verbündete der Rechten ansahen) und erschwerte oder verunmöglichte letzten Endes auch ein gemeinsames Handeln gegen die im Aufstieg befindlichen Nationalsozialisten.

Andererseits wurden aber auch die "Lumpenproletarier" für den Aufstieg der Nazi-Bewegung verantwortlich gemacht: Bereits Marx hatte die vermeintlich hohe Bereitschaft der "Lumpenproletarier" behauptet, sich als "Mobilgarden der Reaktion" kaufen und einsetzen zu lassen. Rosa Luxemburg meinte in einer Betrachtung zur ersten russischen Revolution 1905, die "Lumpenproletarier." hätten sich durch "systematische Aufstachelung .(...) als Kampfmittel gegen die Revolution zu Brandstiftung, Mord, Suff und Plünderung" gebrauchen lassen. Schließlich war die Vorstellung von einer "asozialen Basis des (NS-)Regimes" weit verbreitet, daß insbesondere die paramilitärische SA, die nicht zuletzt als Schläger Aktivisten und Vertreter anderer Parteien und Organisationen bedrohten, "eine Art Lumpenproletariat" seien.

Vorstellungen aus dieser Zeit ziehen sich auch bis in die Folgezeit: Wo bereits kurz nach dem Ende des NS-Regimes wieder Zwangsarbeit und Hungerstrafen für vermeintlich "Renitente" gefordert wurden dies aber auch in den Jahren nach 2000 wieder gefordert wurde ("Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!"). Wo man Proletarier schon im Kaiserreich als "Tagediebe, Verbrecher, Gesindel" etc. geißelte, tauchte das auch in der Argumentation um 1968 wieder auf, wo selbst das NS-Opfer Jean Amery „widernatürliche[n] Allianzen" der studentischen „Neuen Linken" mit „peripheren, an den Grenzen der Kriminalität sich bewegenden" Subkulturen kritisierte - mit „Raubauken, die im besten Falle 'rebels without a cause', im schlimmsten Gangster im Kleinformat sind". Und wo eben in den 1920er und 1930er Jahren von der "Erbgesundheit" schwadroniert wurde, auch ein Thilo Sarrazin seine eugenischen Thesen veröffentlichte.

[^Autoritaer-Sozdem]: Harold Hurwitz, Klaus Sühl, "Autoritäre Tradierung und Demokratiepotential in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung", Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945 Band II, Köln: Verlag Wissenschaft und Politik, 1984

[^Lumpen]: de.wikipedia.org/wiki/Lumpenproletariat, abgerufen am 09.03.2025
[^Proletarier]: Michael Schwartz, "Proletarier und Lumpen - Sozialistische Ursprünge eugenischen Denkens", in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 42 (4), 1994, S.537-570



### 'Fehlendes Unrechtsbewußtsein'/'Herrschende Moralvorstellungen'

Daran schließt die Beobachtung an, daß viele Opfergruppen des Nazi-Regimes für lange Zeit, zum Teil bis in die jüngste Zeit, um Anerkennung als Opfer kämpfen mußten. Es gab Vorstellungen, daß sie "wohl zurecht von den Nazis bekämpft worden seien, wenn vielleicht auch die Bestrafung überhart gewesen sei". Zumal bestimmte vermeintliche "Verhaltensweisen" oder ein bestimmtes "Sein" ja weiterhin als Verbrechen galten und/oder die Polizei diese Gruppen weiterhin beobachtete und verfolgte: Etwa Homosexuelle, als "Zigeuner" oder als "Asoziale" bezeichnete Menschen. Angehörige dieser Gruppen erhielten in der Nachkriegszeit weniger Hilfe als andere, manchmal auch gar keine, oder wurden lediglich aus den KZs in normale Gefängnisse gebracht, um "ihre Strafe dort weiter abzusitzen". "Asoziale" wurden nicht nur, weil "in der Gesellschaft" vermeintlich "asoziales Verhalten" weiterhin geächtet wurde, sondern auch - in Anlehung an eine Beobachtung von Eugen Kogon in seinem "SS-Staat" - sogar pauschal als "Handlanger des KZ-Systems" betrachtet und auch deswegen nicht zu den Opfern gezählt.


[...]


Es hat andererseits auch seinen Grund, weshalb es nur in Diktaturen Arbeitslager gibt. Diese sind ihrer Natur nach keine demokratischen Institutionen, sondern sie laufen diesen Vorstellungen geradezu gezielt zuwider. Weiterhin treten in Lagersystemen, wo es "in Demokratien" gibt oder gegeben hat (allen voran im "Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten"), immer wieder schwere Verletzungen und auch Todesfälle auf, die durch die Verhältnisse durchaus gefördert werden. [^BOOTCAMP]

[^BOOTCAMP]: https://de.wikipedia.org/wiki/Bootcamp_(Strafvollzug) , abgerufen am 12.02.2025




[label-name="historikerstreit"]
## Konservatives (bzw. weit verbreitetes) Denken nach 1945 II

Manche mögen das vielleicht mit Begründungen abbügeln wollen: Die Nazizeit sei halt noch nicht lange her gewesen, bzw. das sei halt eine Generation gewesen, die noch mit den Erziehungsidealen autoritärer Regimes aufgewachsen seien, derartige Denkweisen seien weit auch über die Nazi-Anhängerschaft verbreitet und auch nachher nicht sofort ad acta gelegt worden.

Einerseits läßt sich feststellen, daß die offene Bejahung des Naziregimes bei den Menschen in den 1950er Jahren dann doch abgenommen hat, mindestens in dem Maße, wie es ihnen im Lauf der Zeit materiell wieder besser ging (s.o.). Andererseits blieb die Empfänglichkeit für Thesen dieser Art weiter fortbestehen und war auch später immer abrufbar. Politiker und Medien haben sie eingesetzt in dem Versuch, Einfluß auf öffentliche Diskurse zu nehmen - teilweise sehr gezielt, teilweise auch "stochernd im Nebel" einer irgendwie diffusen "rechtslastigen Befindlichkeit". Es zeigt sich, daß sie sich auch schon vor dem Auftreten und der sehr weitgehenden Rechtsverschiebung der AFD dabei ideologisch sehr weit nach rechts geöffnet haben. [^Seduction]

[^NN]: Siehe auch Betrachtungen von N.N. über den Zustand der Konservativen in den 1970er/80er Jahren.
[^Seduction]: vgl. hier und im folgenden Richard Wolin, "The Seduction of Unreason - The intellectual romance with fascism: from Nietzsche to postmodernism", Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 2004, S.129-150

Boulevard-Medien oder bestimmte Verlage sind ja schon sprichwörtlich oft "rechts der Mitte" angesiedelt, sie versuchen zu suggerieren, für "Volkes Stimme" zu sprechen, . Wem nützt es beispielsweise, wenn eine der Zeitungen aus dem Axel-Springer-Verlag gehen eine Erhöhung des Mindestlohns wettert? Doch wohl kaum dem vermeintlichen "durchschnittlichen Leser" dieser Blätter. Insofern sollte man immer auch Versuche einkalkulieren, die Meinung des Lesers zu manipulieren. Das haben aber längst nicht nur Konservative getan, sondern auch im "liberalen Kosmos" kamen solche Diskussionen vor. Diese waren beispielsweise auch dadurch gekennzeichnet, daß versucht wurde, "den ideologischen Feind" für den Faschismus verantwortlich zu machen, den Faschismus zu "relativieren" oder "positive Seiten" an irgendetwas zu sehen.

* In Deutschland hatte die gesellschaftlich-intellektuelle Aufarbeitung der NS-Zeit erst nach Jahrzehnten durch Impulse der Studentenbewegung ab etwa 1965 eingesetzt, wobei es aber auch dann erst etwa 40 Jahre nach dem Ende des 2.Weltkriegs zu wirklichen Gesamtdarstellungen kam. Seit Ende der 1970er Jahre hatte es dagegen eine intellektuelle wie auch politische Gegenentwicklung gegeben, die beispielsweise von Jürgen Habermas als "Neue Rechte" bezeichnet wurde. Nach der 1982 von Helmut Kohl ausgerufenen "geistig-moralische Wende" verstärkte sich ein Denken, mehr oder weniger einen "Schlußstrich" unter die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu ziehen bzw. ein "konservatives, nationalverträgliches Geschichtsbild" etablieren zu wollen.  [^Historikerstreit]

* Richard Wolin beginnt seinen Essays über die "deutschen Unsicherheiten" den Ursprung für den Wiederkunft einer "neuen (vermeintlich intellektuellen) Rechten" in Deutschland mit einer Betrachtung über Thesen des in konservativen Kreisen geschätzten Historikers Ernst Nolte, der seit etwa 1980 Thesen mit einem "schimmeligen Beigeschmack" veröffentlichte: So etwa einen Beitrag, der zunächst 1980 unter dem Titel "Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus" von der FAZ und 1985 noch einmal überarbeitet veröffentlicht wurde, in der er an der historischen Forschung bemängelte, diese habe "bloß die Stimme der Opfer vernehmbar" gemacht, was zu einem "durchweg und anhaltend negative(n) Bild des Dritten Reichs" geführt habe. "Dies berge die Gefahr für die Wissenschaft in sich, die Geschichte nur aus dem Blickwinkel der Sieger wahrzunehmen und festzuschreiben." Nolte nahm darin Bezug auf verschiedene revisionistische Thesen, mit denen in gewisser Weise Handeln der Nazis "relativiert" oder nachträglich legitimiert werden sollte. [^Nolte-Aspects] 

	Ein 1986 ebenfalls von der FAZ veröffentlichter Essay von Nolte mit dem Titel "Vergangenheit, die nicht vergehen will", war letztlich auch der konkrete Anlaß für den sog. Historikerstreit, einer etwa ein Jahr lang geführten akademischen Debatte über die Frage der Singularität des Holocaust bzw. um die Frage, welches Geschichtsbild in Deutschland gepflegt werden sollte. Nolte vertrat in seinen Essays beispielsweise Thesen, ob nicht der Aufstieg und das Vorgehen der Nazis, etwa die Herausbildung des KZ-Lagersystems, als "Antwort" auf den Aufstieg des kommunistischen Systems mit der Einführung des Gulag-Zwangsarbeitssystems zu verstehen sein könnte. Auch, ob es nicht in gewisser Weise "legitim" gewesen sein könnte, Juden als "Kriegsgefangene" zu behandeln und zu "internieren", wie dies etwa die Briten mit deutschen Staatsbürgern oder die USA mit Japanisch-stämmigen eigenen Staatsbürgern im 2.Weltkrieg getan hätten, nachdem der Präsident der Jewish Agency kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 geäußert habe, daß Juden in aller Welt gegen die Nazis kämpfen würden. Oder ob nicht auch die Gegner der Nazis einen "Vernichtungswillen" gehabt hätten, der sich in derartigen Kommentaren und durch das Erleben des Bombenkriegs gegen deutsche Städte geäußert hätte. [^Historikerstreit] Nolte vermeinte einen "rationalen Kern" im Nationalsozialismus zu erkennen oder meinte auch der Argumentation Martin Heideggers aus der damaligen Zeit etwas abgewinnen zu können, der Nationalsozialismus sei historisch gesehen "der richtige Weg" für Deutschland gewesen. (vgl. [^Seduction] S.129f.)

	Nolte hat sich auch in "whataboutism" betätigt, um letztlich ungeheuerliche Verbrechen des NS-Systems "in Beziehung zu setzen"- und damit nach dem Verständnis vieler Zeitgenossen letztlich zu relativieren. Er verglich etwa den "Euthanasie" genannten Mord an psychisch Kranken und geistig Behinderten als vermeintlich "unwertem Leben" bzw. den durchaus gewollten und auf viele Arten geförderten Tod von Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen mit Abtreibungen in der westlichen Welt oder der Besatzungspolitik der Sowjets in Afghanistan (also auch im Sinne, daß ihre Taten auf sie zurückfielen?).

[^Nolte-Aspects]: Ernst Nolte, ""; in H.W.Koch, "Aspects of the Third Reich", London: Palgrave Macmillan, 1985, S.17–38.
[^Historikerstreit]: https://de.wikipedia.org/wiki/Historikerstreit ; abgerufen am 12.03.2025


Eröffnet hatte ich diesen Abschnitt mit der Frage: Hatten die Menschen Schuld, hatten die Menschen Verantwortung gehabt?

[...]

Und heutzutage ist es einfacher: Sie haben eine Verantwortung, daß Dinge nicht wieder geschehen. Schuld aber haben sie dann, wenn die Dinge wieder geschehen, wenn sie die nicht verhindert haben, oder sie sogar aktiv befördert haben.





Konservative und Diktatur (B): International
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Es schließt letztlich eine weitere Betrachtung an, nämlich darüber, daß die Entstehung des Faschismus nicht ein "deutscher Sonderweg" war, sondern es gewisse "historische Regelhaftigkeiten" gab: Seit den 1920er Jahren haben konservative Parteien immer wieder versucht, faschistische Ideologien für ihre Zwecke einzusetzen. Oft hat sich das gerächt, indem die Faschisten "den Spieß umgedreht" haben. Aber auch in jenen Fällen, in denen es sich - für sie - kurz- oder langfristig positiv ausgewirkt hat, hat das den Menschen nicht genützt, sondern letztlich zu "eigenen Versionen" von Autoritarismus, für die Menschen also zum Abbau von Freiheitsrechten und/oder zu einer Verbiegung der Demokratie geführt.

Die grundsätzliche Kompatibilität einer kapitalistisch geprägten Wirtschaftsweise zu Diktaturen wurde bereits diskutiert.

Eine andere Dimension ist aber, wie sich Konservative historisch verhalten haben, als es darum ging, sich mit der "Herausforderung des Faschismus" auseinanderzusetzen. Es gab durchuas auch ein paar konservative Parteien, die sich auf den Boden der Verfassung gestellt hatten. [^Wolkenstein-Kons] Diese Diskussion hat aber noch eine andere Dimension: Es gab Parteien, die mehr oder weniger auf den Boden der Verfassung standen und dann aber entschieden haben, in irgendeiner Form mit den Faschisten "zusammenzuarbeiten". Dabei ist zu sehen, daß es mehr oder weniger eine Gesetzmäßigkeit gibt: Wann immer konservative Parteien mit den Faschisten "zusammengearbeitet" haben, war das Ergebnis oft eine Diktatur, mindestens aber eine mnassive Stärkung der Rechten verbunden mit einer Verschiebung der politischen Diskurse und des gesellschaftlichen Klimas "nach rechts" oder die Herausbildung "illiberaler" Systeme.

[^Wolkenstein-Kons]: Siehe Wolkenstein, a.a.O.

Ausgeführt ist das an Vignetten darüber, wie sich die Konservativen in Italien, Spanien und Österreich verhalten haben.

In anderen Ländern und zu anderen Zeiten hat es auch immer wieder "Tabubrüche" dieser Art gegeben, bei denen sich nicht in naher Zeit eine Diktatur ergeben hat. Diese haben zwar vielleicht kurzfristig auch den Konservativen genützt, mit Rechtspopulisten, -extremen oder Faschisten zusammenzuarbeiten, aber langfristig auf eine Art, wie sie sich das damals vielleicht vorgestellt hatten, zu Veränderungen der politischen Landschaft geführt, bei denen diese extremeren Kräfte gestärkt wurden, die Konservativen letztlich ihren eigenen Abstieg mitbeschlossen hatten. Beispiele sehen wir etwa in Frankreich 1983 bis heute, im Österreich der neueren Zeit, oder aber in Großbritannien im Zusammenhang mit und in der Folge des "Brexit"-Referendums. Man könnte sich auf die Position stellen, "es sei ja gerade nochmal gutgegangen". Oder aber, daß dies eine sehr gefährliche Strategie war, die letztlich die Rechten gestärkt und die Konservativen geschwächt hat.


## Italien

Das war beispielsweise in Italien so: Konservative sahen die Faschisten als Verbündete im Kampf gegen eine relativ starke kommunistische Partei, die die Herrschaft der Großgrundbesitzer und -industriellen, also konservativer Klientel, bedrohte. Auch am Tag des "Marsches auf Rom" war die italienische faschistische Partei nur eine kleine Gruppe, Mussolini wurde aber auf Betreiben von konservativen Parteien zum Ministerpräsidenten ernannt und konnte jene Gesetze, die die Demokratie beseitigen und für über 20 Jahre die faschistische festigten, mit Hilfe von konservativen Parteien durchbringen. Andere Konservative glaubten zumindest Versprechungen Mussolinis, die Faschisten "durch den Zwang zur parlamentarischen Kooperation zähmen und demokratisieren zu können". Mussolini konnte mit ihrer Hilfe Gesetze durchsetzen, die nicht zuletzt das politische System neu strukturierten, so daß letztlich die nächste Parlamentswahl im Jahr 1924 die unumschränkte Herrschaft der Faschisten für die nächsten 20 Jahre zementierte. [^Wolkenstein-71]

[^Wolkenstein-71]: Wolkenstein, a.a.O., S.71


## TODO: Österreich: Austrofaschismus

...

(Was hier auch auffällt: Die Reaktion der österreichischen Politik auf die Weltwirtschaftskrise war letztlich, die Unterstützung für Notleidende stark einzuschränken. War das hier ein starker Kritikpunkt, läßt sich vielleicht auch schon hier eine Linie zu einem autoritärer werdenden Politikstil finden?)

Das war wohl auch dadurch bedingt, daß die von den "Christlichsozialen" geprägte Regierung nur eine knappe Mehrheit hatte, die sie bei der nächsten Wahl zu verlieren drohte. Auf Grundlage von Gesetzen, deren Ursprünge noch auf das Habsburgerreich zurückgingen, wurde nunmehr letztlich gegen die Sozialdemokraten vorgegangen, um deren möglichen Wahlsieg zu verhindern.

Öffentlich gerechtfertigt wurde das aber auch mit der Machtübernahme durch die NSDAP in Deutschland, die ihren Einfluß auch auf Österreich projizierte. Ein Begriff der Zeit war, man wolle die Nazis "überhitlern". Zwar wurde mit der Institution des austrofaschistischen "Ständestaates" auch der österreichische Ableger der NSDAP verboten und bekämpft, aber letzten Endes haben ja bekanntermaßen auch in Österreich die deutschen Nazis ohne größeren Widerstand die Macht erlangt.



## Spanien

Auch in Spanien waren die Faschisten, die beiden Parteien "Falange" und "JONS", zunächst eher Splittergruppen. Politisch dominant auf der Rechten war die Parteienallianz CEDA, die aus verschiedenen Gruppen bestand, die sehr unterschiedliche Vorstellungen vertraten: Von ansatzweise demokratiefähigen bis hin zu bereits stark faschistisch orientierten Gruppen. Ihr Vorsitzender, Jose Maria Gil-Robles, neigte indessen nach Besuchen in Deutschland und Österreich Vorstellungen zu, wie sie Engelbert Dollfuß, der "Führer" des klerikal-faschistischen "Ständestaates" vertrat. Man wollte die Demokratie solange nutzen, wie man es mußte, um letztlich die Mehrheit zu erlangen, und diese dann nutzen, um die Demokratie abzuschaffen.

Nachdem in der jungen Republik 1930 zunächst eine deutlich links geprägte Regierung die Macht erhalten hatte, führte die nächste Wahl 1933 zu einer Mehrheit der rechten Kräfte, zumindest nutzte die CEDA ihre neue Position, um Reformen der Vorgängerregierung zurückzurollen, beispielsweise Landreformen und die Stärkung der Arbeiterrechte. 1936 wurde die rechtsgeprägte Regierung bei der nächsten Wahl durch die linksgeprägte Volksfront abgelöst. Aber bereits in den Jahren zuvor hatte sich das politische Klima derart verschärft, daß es zu Straßenkämpfen, Übergriffen und Anschlägen auf Unterstützer und prominente Vertreter beider Seiten kam. Ein politischer Mord an einem besonders profilierten rechten Politiker wurde von rechtsgerichteten Militärs genutzt, um einen Militäraufstand zu orchestrieren, der in Teilen des Landes erfolgreich war und zum spanischen Bürgerkrieg führte. Die Militärs wurden dabei von der CEDA und den Faschisten unterstützt.

Als sich nach dem Tod des bisherigen Anführers letztlich General Franco als Anführer der republikfeindlichen Kräfte herauskristallierte, erklärte dieser in seinem Machtbereich alle politischen Parteien außer der inzwischen zu einer Partei vereinigten faschistischen "Falange de las JONS" für aufgelöst, wobei allerdings viele Mitglieder anderer rechter Parteien, monarchistischer und nationalistischer Gruppen als auch der CEDA, zu den Faschisten übergingen.

Franco betrieb in den nächsten Jahrzehnten eine "Schaukelpolitik", wobei sich die Gewichtung zwischen den verschiedenen Gruppierungen, die zwangsweise organisiert worden waren, im Laufe der Zeit veränderte: Mindestens bis in die späteren 1940er Jahre war das Regime stark durch faschistische Machtmethoden geprägt, wozu auch die Internierung und Morde an politischen Gegnern in Konzentrationslagern zählten, bevor sich Franco zunehmend auf ultrakonservative bzw. wirtschaftsliberale Politiker stützte. Die Falange blieb allerdings immer noch gesellschaftlich relevant, indem viele gesellschaftliche und soziale Aktivitäten durch deren Frauenorganisation organisiert wurden und (zumal für Frauen, die berufstätig sein oder studieren wollten) eine Beteiligung an diesen auch mehr oder weniger verpflichtend war. Insofern hatten die Konservativen ihre Ziele dann aber auch "nur teilweise" erreicht, weil einerseits der rechte Umsturz erreicht wurde, andererseits die Politik des Regimes nicht unbedingt nach deren Wünschen war: Proteste, teilweise auch gewalttätige Animositäten zwischen verschiedenen Gruppen sind für die Jahre des Regimes durchaus dokumentiert.



## TODO: Österreich in der Zweiten Republik

Die FPÖ wird von vielen Österreichern heute als "normale Partei" wahrgenommen. Wobei sie von ihren Gründern, oft "alten Nazis", bewußt als "Sammelbecken" gegründet worden war, um entsprechend geartete Geister wieder aufzunehmen. Auch hier gilt, daß das "Politikangebot" nicht eindeutig als "links oder rechts" beschrieben werden kann - es kann durchaus sein, daß durchaus Sozialleistungen gefordert werden, diese allerdings von der Staatsbürgerschaft oder von irgendwelchen weiteren Integrationsleistungen abhängig gemacht werden. Bereits in den 1970er Jahren hatte es erste Kooperationen gegeben, hierbei auch zwischen der SPÖ und der FPÖ.

Bei der Parlamentswahl im Jahr 2024 wurde die FPÖ nun erstmals mit xx% zur stärksten Partei gewählt, Wahlumfragen in den folgenden Wochen sahen sie in der "Sonntagsfrage" sogar bei 40%.



[label-name="frankreich"]
## Frankreich 1983, 2002, 2024

__Eine Frage hatte sich Jean-Marie Le Pen wohl nie gestellt: Wenn die Menschen auf den Straßen feiern, wenn ich sterbe, habe ich eventuell etwas falsch gemacht?__

Das Jahr 1983 war in Frankreich von einer Reihe von Geschehnissen gekennzeichnet, die das Verhältnis zwischen Arabischstämmigen und der Mehrheitsgesellschaft belasteten. [^Marche-1983] Dies war zum einen eine Reihe rassistischer Verbrechen, darunter der Mord an einem Maghrebiner, den drei Soldaten begangen hatten, und Polizeiübergriffe auf Aktivisten. Latenter Rassismus oder Abschätzigkeit gegenüber Anliegen von Migranten war weit verbreitet: Selbst die damalige sozialistische Regierung äußerte deutliche Mißbilligung, als mehrheitlich migrantische Arbeiter eines Werkes von Renault für bessere Arbeitsbedingungen streikten. 

Zum anderen aber auch durch einen politischen "Tabubruch", nämlich einen "Wahlpakt" zwischen Parteien rechts der Mitte, insbesondere der konservativen Partei RPR mit dem damaligen Vorsitzenden Jacques Chirac, und dem Front National. Bis dahin war der FN in Frankreich auf der nationalen Bühne nur eine Splittergruppe mit einem Wähleranteil von 0.35% gewesen. In einer "Hochburg" hatte der FN bei einer lokalen Abstimmung in der ersten Wahlrunde allerdings 17% der Stimmen erhalten. Jacques Chirac äußerte sich damals zu dem "Rechtspakt", vier rechtsradikale Stadträte in einer Kleinstadt seien für das Land weniger bedrohlich als vier Minister der kommunistischen Partei in der Regierung. Nur wenige prominente Mitglieder von Parteien rechts der Mitte sprachen sich damals gegen diesen Pakt aus. Der rechte Wahlpakt bescherte der FN in der Folge einen ihrer ersten Wahlsiege: In der entscheidenden Stichwahl erreichte der FN 55% der Stimmen - ein Fakt, den die Rechtsextremen in der Folge massiv propagandistisch genutzt haben.

Chirac hatte damit der damals amtierenden sozialistischen Regierung einen kleinen Dämpfer versetzen wollen. Der "Tabubruch" führte allerdings auch dazu, daß der Front National erstmals auch auf der nationalen Bühne wahrgenommen wurde. Jacques Chirac würde das in Zukunft zumindest einmal noch einmal nützen: Er war nach seiner ersten Amtszeit als Staatspräsident denkbar unpopulär und seine Wiederwahl im Jahr 2002 alles andere als wahrscheinlich. Insbesondere dem sozialistischen Gegenkandidaten Lionel Jospin wurden gute Chancen eingeräumt, zum nächsten Staatspräsidenten gewählt zu werden. In der ersten Wahlrunde hatte er nur knapp unter 20% der Stimmen erreicht. Als allerdings überraschend Jean-Marie Le Pen, der Gründer der Front National, knapp vor Jospin als Zweitplazierter mit in die Stichwahl um das Präsidentenamt einzog, sah die überwältigende Mehrheit der Wähler Chirac als das "kleinere Übel" an, und wählte ihn mit überwältigen 82% der Stimmen zurück ins Amt. Allerdings hatte sich zu der Zeit der Front National längst als auch national relevante Partei etabliert, dessen Handlungsweisen die Politik noch belasten würden.


[^Marche-1983]: Abdellali Hajjat, "The wretched of France - the 1983 March for Equality and against Racism", Bloomington, Indiana: Indiana University Press 2022 ; vgl. auch https://en.wikipedia.org/wiki/March_for_Equality_and_Against_Racism , abgerufen am 16.02.2025


Die Europawahl im Jahr 2024 endete in Frankreich mit einem Sieg des Front National. Präsident Emmanuel Macron ordnete daraufhin ebenfalls eine Neuwahl des Parlaments an. Er tat das in gewisser Hinsicht "ohne Not", aber wohl auch aus politischem Kalkül: Seine Regierung war in der Öffentlichkeit unbeliebt, weil sie insbesondere eine Rentenreform durchgesetzt hatte, die das Renteneintrittsalter deutlich erhöhte - landesweite Proteste waren die Folge. Er selbst war deutlich knapper für eine zweite Amtszeit gewählt worden, wobei die Kandidatin der Rechtsextremen, Marine Le Pen, deutlich mehr Stimmen erhalten hatte als seinerzeit ihr Vater. Andererseits war befürchtet worden, daß die Rechtsextremen erstmals die Mehrheit der Mandate erlangen würden. Vielleicht war es das Kalkül, daß die Menschen dadurch "wachgerüttelt" und mobilisiert würden und sich deutlicher für demokratische Parteien aussprechen würden, um zu demonstrieren, daß die Mehrheit weiterhin hinter der Demokratie steht, oder auch für das Lager des Präsidenten zumindest als "kleineres Übel".

Teilweise zahlte sich das Kalkül aus: Überraschend wurden statt der Rechtsextremen die Linken zum stärksten Lager, während die Rechtsextremen deutlich dahinter auf dem dritten Platz landeten. Einerseits hatte das Schreckgespenst einer rechtsextremen Regierung die Bevölkerung mobilisiert. Teilweise hatte sich das Kalkül aber auch nicht ausgezahlt und führte in der Folge zu zusätzlicher politischer Instabilität: Macron war dann auch nicht bereit, einen Politiker aus dem linken Lager zum Premierminister zu ernennen, der zu weit von seinen eigenen politischen Positionen entfernt schien, bzw. eine Mitte-Links-Regierung zu bilden, in der seine Partei eher die geringere Rolle spielen würde. Die Folge war eine Reihe instabiler Regierungen, die von Anhängern des Präsidentenlagers bzw. von Konservativen geprägt waren, allerdings durchaus auch unter Duldung der Rechtsextremen, die insofern auch nicht das Vertrauen der Linken (als "kleinerem Übel") erreichen konnten - oder auch letztlich sogar durch eine "Querfront" von eher populistischen Linken und Rechtsextremen gestürzt wurden.

Für die nächste Präsidentschaftswahl, die regulär im Jahr 2027 ansteht, wird heute ein noch knapperer Wahlausgang bzw. sogar ein Wahlsieg der hypothetischen Kandidatin Marine Le Pen befürchtet.


[label-name="brexit"]
## Großbritannien im und nach dem "Brexit" [^BREXIT]

[^BREXIT]: vgl. etwa https://de.wikipedia.org/wiki/Brexit ; https://de.wikipedia.org/wiki/Britische_Unterhauswahl_2024

In einer relativ knappen Entscheidung stimmten in der Volkabstimmung am 23.Juni 2016 51.89% der Teilnehmenden für den Ausstieg aus der EU. Großbritannien verließ daraufhin nach einer teilweise als chaotisch bezeichneten Verhandlungs- und Übergangsphase im Jahr 2020 die EU. 

Das Referendum war von der Regierung des damaligen konservativen Premierministers David Cameron mit der Begründung lanciert worden, Veränderungen an vertraglichen Regelungen in der Europäischen Union berücksichtigten "britische Interessen" zu wenig, beispielsweise was Einwanderung und staatliche Souveränitätsrechte betreffe. Die Regierung fühlte sich außerdem durch ein starkes Ergebnis für die damalige UK Independence Party (UKIP) bei der vorherigen Europawahl unter Druck gesetzt.

Es gibt verschiedene Faktoren, die die Entscheidung vielleicht beeinflußt haben mögen: So verfolgte beispielsweise die größte Oppositionspartei, die Labour Party, unter dem damaligen als Parteilinken wahrgenommenen Vorsitzenden einen unklaren Kurs in Bezug auf den Verbleib in der EU, bei dem letztlich keine Empfehlung abgegeben wurde. 

Der Brexit hat zu komplizierten Regelungen auch innerhalb Großbritanniens geführt, was etwa den Warenverkehr zwischen Irland und Nordirland bzw. zwischen Nordirland und dem Rest Großbritanniens angeht. In einer Umfrage Ende 2022/Anfang 2023 bereuten zwei Drittel derjenigen, die damals für den Brexit gestimmt hatten, mittlerweile ihre Entscheidung, nachdem der EU-Ausstieg Großbritanniens auch zu Schäden für das Land und zu Nachteilen für Einzelpersonen geführt hat.

Einer der Faktoren, die zu dem Ausstieg Großbritanniens aus der EU beigetragen haben, ist wohl in der dauerhaften Strukturschwäche einiger Regionen im Norden Englands zu suchen: Nach dem Zusammenbruch der "traditionellen" Industrien dort waren nur wenige Wirtschaftszweige übriggeblieben, u.a. die Fischerei. Die Fischerei ist in der EU durch Fangquoten reguliert, die ja eigentlich auch dafür sorgen sollten, daß auch in Zukunft die Meere noch Fische hergeben. Politiker in GB hatten es nun immer wieder geschafft, daß die Menschen die wirtschaftlichen Probleme nicht als hausgemacht wahrnahmen, sondern die vermeintlichen Kosten der EU-Mitgliedschaft bzw. die vermeintlich repressiven Regelungen der EU dafür verantwortlich machten. Dabei wurde oft nicht wahrgenommen, daß die Geld-Rückflüsse aus der EU teilweise größer waren als die EU-Mitgliedsbeiträge, und ganze Wirtschaftszweige von EU-Subventionen profitiert hatten. (Q?)

Die Brexit-Kampagne stellt auch einen wichtigen Zeitraum in der politischen Karriere von Boris Johnson dar, der sich auf die Seite der EU-Aussteiger gestellt hatte. Er hatte stark auf die vermeintlichen Kosten der EU-Mitgliedschaft hingewiesen und behauptet, dieses Geld fehle dem Nationalen Gesundheitsservice NHS. Er gab selbst kurz nach dem Brexit-Referendum zu, daß es sich bei dieser Aussage um die Unwahrheit gehandelt hatte. Johnson wurde im Jahr 2019 zum Premierminister ernannt und hat das Versprechen, die Finanzierung des NHS neu zu ordnen, nicht umgesetzt.

Johnson verfolgte während seiner Amtszeit in mancherlei Hinsicht eine dezidiert populistische Politik, die ihn einerseits an der Wahlurne zunächst gestärkt hatte.  Nach mehreren Skandalen wurde Johnson allerdings als untragbar aus dem Amt gedrängt. Dem folgte eine unglückliche "Übergangs"-Premierministerin Liz Truss. Insbesondere Johnsons Nach-Nachfolger im Amt des Premierministers, Rishi Sunak wollte oder konnte die rechtspopulistische Politik nicht mitgehen. Bei der nächsten Unterhauswahl führte dies zu erheblichen Verlusten für die konservative Partei. Während der Stimmenanteil der Sozialdemokraten nur wenig gestiegen war, konnten sie eine deutliche Mehrheit der Abgeordnetensitze erreichen und die Regierung übernehmen, weil die Konservativen fast 20% an Zustimmung verloren. Die nach mehreren Häutungen inzwischen als "Reform Party" firmierenden Rechtspopulisten gewannen demhingegen über 12% dazu. Daß die Rechtspopulisten dabei nur wenige Abgeordnetensitze gewannnen, liegt an der Natur des britischen Mehrheitswahlsystems und der Verteilung der Anhängerschaft der Reform Party auf das Land.

Eine mögliche Interpretation für diese Veränderung ist, daß Johnson durch seine Politik bzw. Versprechungen größere Wähleranteile erschlossen hatte, die für populistische Parolen empfänglich sind. Verfolgt die entsprechende Partei die populistische Politik nicht weiter, gehen viele dieser Wähler nicht etwa zu anderen "demokratischen Parteien" über, sondern gehen zu einer Partei über, die noch populistischer argumentiert.

In der Demokratie ist sicherlich nicht wünschenswert, wenn größere Teile der Bevölkerung nicht wählen. Die Politik hat es allerdings auch nicht geschafft, räsonable Politikansätze zu formulieren, die auch für diese Wähler attraktiv gewesen wären.



## Dänemark, Niederlande, Italien, Finnland, Schweden, ...

In vielen Ländern wird in den letzten Jahren die Politik durch Rechtsextreme nach rechts getrieben: Sie waren entweder selbst an der Regierung beteiligt, tolerierten Minderheitsregierungen - oder brachten andere politische Parteien dazu, sich mit ihnen einen Wettbewerb zu liefern, wer das härtere Vorgehen beispielsweise gegen Migranten forderte.

Ein Beispiel hierfür ist etwa, daß in Dänemark sich die Parteien seit Jahren einen Wettbewerb um die denkbar restriktivste Asylpolitik. Selbst die Sozialdemokraten haben für das Land das Ziel "null Asylbewerber" ausgegeben und haben Migranten unter zum Teil restriktive und gängelnde Bestimmungen gesetzt. So kann z.B. Migranten der Zuzug verweigert oder sie zum Wegzug gezwungen werden, falls der Regierung in einem Viertel der Anteil an Migranten an der Wohnbevölkerung zu groß ist.

In anderen Ländern sind die Parteien letztlich nicht fähig, sich aus dem Klammergriff zu befreien, den Rechtspopulisten/-extreme generiert haben: Der Wahlsieg der rechtspopulistischen/-extremen "Partei für die Freiheit" (wohl: ...der Niederlande von Ausländern) ... war offenbar für mehrere konservative und rechtskonservative Parteien letztlich ein akzeptabler Partner für die Bildung einer Regierung. ...